So, das Letzte da war jetzt mehr als genug witweske Ichigkeit im Larmoyanz-Modus (Neudeutsch: „mimimi“).
Tüte ist da, alles ist da – also: Vorwärts!
Vor zehn Jahren waren der Lebensmensch und ich am Ende der ambulanten Reha und am Anfang zarter Hoffnung. Und irgendwann Ende März oder Anfang April auf einer ersten Wanderung. Durchs Briesetal, in dem wir zuvor nie gewesen waren (und nie wieder danach): Lichtgrün alle Strauchknospen, in den Baumkronen ein ähnliches Schimmern, am noch blassblauen Himmel eine Sonne, die in der Mittagsstunde bereits den Sommer ahnen ließ. Wir verbrachten diese Mittagsstunde an einem Ausflügler-Tisch mit Blick auf einen Dachsbau.
In der rohen Holzplatte, an deren Fußgestell beidseits zwei ebenso rohe Sitzbalken angeschraubt waren, hatten sich Flechten verankert wie Seepocken an den portugiesischen Felsen, nur deutlich bunter.
– Überhaupt: Von jener Wanderung sind mir Farben im Kopf, wie ich sie nie zuvor und nie danach meine gesehen zu haben. Und eine seltsame Stille, die in jener Bachlandschaft lag wie eine etwas zerkrunkelte Schneedecke. Kaum mal ein Vogelton, und selbst das Rascheln und Knacken des letztjährigen Laubs, kleiner Zweige unter unseren Sohlen war gedämpft, oft bis zur Lautlosigkeit. Wind ging, wenn ich mich richtig erinnere, gar nicht, allenfalls eine kaum merkliche Briese.
Psychedelische Stunden ganz ohne entsprechende Substanzen.
Dass diese Stunden damals mich weit über mich selbst hinaus geführt haben, merke ich daran, was an visuell-emotionalen Bildern – vermutlich ist es das, was man „Erinnerung“ nennt – von jener Wanderung noch in mir vorhanden ist. Sie lassen sich nicht zählen, letztlich ist es nur eins. Aber das mit so großer Intensität, dass ich den Eindruck habe, damit mehrere Filmrollen bestücken zu können.
Wir trafen auf dieser Wanderung keinen Menschen. Auch der Parkplatz war bis auf unser Auto leer.
Heute wäre das trotzdem verboten, jedenfalls unser Picknick an jenem Tisch bedeckt mit bunten Flechten und ein wenig Brot, Wurst und Apfelschnitzen – Heute, da man angewiesen worden ist, nicht nach draußen zu gehen, und wenn man es doch tut, dort keine Rast mehr machen darf, sondern zu Hause bleiben soll.
Ich denke an all die Krebskranken, die nun am Ende ihrer Chemotherapien oder ihrer Reha-Aufenthalte sachte Hoffnung verspüren, ihren Körper nicht mehr nur als Schmerzfabrik wahrnehmen, die Sonne merken und raus wollen: in die Welt, ein Bachbett entlang wandern, an einem rohen Holztisch voller irrsinnig bunter Flechten sitzen. Und das nicht dürfen.
Mir tut das leid. Aber ich weiß gar nicht, ob das den Betroffenen leid tut; vielleicht ist das für sie einfach nur so normal unnormal, wie auch für uns damals alles normal unnormal war.
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Und ich bin nicht „dankbar“ dafür, dass wir das damals einmal machen durften.
– Das begegnet mir immer wieder: Dass ich doch „dankbar!!!“ sein solle, zum Beispiel für diese Wanderung damals am Ende der Reha.
Die Menschen, die mir das nahelegen, wandern bis heute (mit ihren Partnern, ihren Familien, ihren Berufen, ihrer Gesundheit, ihrer Zufriedenheit).
– Okay, im Moment dürfen auch sie nicht Rast machen.
Aber Wandern, das dürfen sie bis heute.
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Das Gute:
Wir sind gestorben. Der Lebensmensch muss „in den Corona-Zeiten“ keinen Krebs mehr haben (wie jetzt mit Krebskranken zum Beispiel in Krankenhäusern umgegangen wird, wage ich mir nicht vorzustellen).
Und noch etwas Gutes:
Den Flechten muss nichts erklärt werden, so wenig wie den Seepocken.