Werden mich unsere Enkel- und Urenkelkinder fragen: „Du hast doch alles gewusst, warum hast Du nichts getan?“ – Nein: Diese Frage noch zu stellen, wird niemand mehr da sein.
Dennoch: „Zeugnis-Ablegen bis zum letzten.“ (Victor Klemperer)
Jetzt muss ich meinen 8. Orientierungskurs unterrichten.
Zur Orientierung der geneigten Leserschaft: Der Orientierungskurs schließt sich an den Sprachteil des Integrationskurses an (gehört formal aber zum Integrationskurs dazu, in dem MigrantInnen zuvor 600 Stunden lang Deutsch lernen, was viel zu wenig ist, um halbwegs vom Durchschnittsdeutschen akzeptiert Deutsch zu sprechen), umfasst noch einmal ein Modul, also nochmals 100 Unterrichtseinheiten à 45 Minuten, und wird mit einem Multiple-Choice-Test abgeschlossen. Zum Bestehen muss man zum Beispiel wissen, wer den Bundespräsidenten wählt, was ein Schöffe ist, wie die unterste Stufe des politischen Verwaltungsaufbaus heißt, oder was es bedeutet, wenn eine Partei bei der Wahl viele Zweitstimmen bekommt.
– Na, hätten Sie’s gewusst?
Abgesehen davon, dass also über die prüfungsrelevanten Inhalte dieses „Orientierungskurses“ gestritten werden kann – ich habe diese OKs immer gern unterrichtet.
Weil es mir wichtig ist, dass Menschen, die aus anderen Ländern hierher kommen und hier längerfristig leben möchten, verstehen, wie dieses Land, wie dieser Staat tickt – und warum es dieses verfassungsrechtlich festgeschriebene spezielle System von „checks and balances“ in der BRD gibt.
– Ich bin Verfassungspatriotin.
Das Grundgesetz – nein: seine Gültigkeit ist das einzige, das mich stolz macht, diesem Staat anzugehören.
Denn dass ich hier geboren bin, ist ein Zufall; und auf Zufälle kann man nicht stolz sein. Auch kann ich nicht auf das Grundgesetz per se stolz sein, denn ich habe an seinem Entstehen nicht mitgewirkt; stolz aber kann man nur auf etwas sein, für das man selbst etwas geleistet, an dem man selbst mitgewirkt hat.
Doch ich kann stolz sein darauf, dass diese zweifelsohne nicht perfekte, aber aus meiner Sicht respektable Verfassung bis heute gültig ist, denn auch ich habe mein Teil dazu beigetragen.
Und damit bin ich wieder im Dunkel angekommen, und bei dem Problem, das ich jetzt mit meinem 8. Orientierungskurs habe:
Das Grundgesetz ist nicht mehr gültig.
Dem zuwider, was dort aus der Erfahrung der Nazi-Diktatur heraus als Grundrecht kodifiziert worden ist – dem zuwider wird heutzutage (und das seit 13 Monaten) auf staatliche, regierungsamtliche Anordnung hin in diesem Land
• die Menschenwürde millionenfach verletzt, zum Beispiel, indem wir die Alten völlig mutterseelenallein – nämlich corona-isoliert – krepieren und unsere Kinder und Jugendlichen, unsere Azubis und Studierenden verkommen lassen,
• wird die freie Entfaltung der Persönlichkeit millionenfach verhindert,
• wird die freie Meinungsäußerung und werden (politische) Versammlungen verboten,
• werden die Freizügigkeit, die freie Berufswahl, die ungestörte Religionsausübung millionenfach verboten,
• ist die Freiheit der Kunst und auch die der Wissenschaft abgeschafft,
• steht die Familie nicht mehr unter dem besonderen Schutz des Staates, vielmehr hat dieser Staat den Kindern nun seit einem Jahr verboten, sich zu entwickeln,
• und, sollte es dazu kommen, dass für ‚Geimpfte‘ die Grundrechte wieder gültig werden, für Nicht-‚Geimpfte‘ jedoch nicht, dann wäre es auch mit dem Grundrecht der Gleichheit vor dem Gesetz vorbei.
All das widerspricht dem Grundgesetz, auf dessen Gültigkeit ich bislang stolz war, das nun aber nicht mehr gültig ist.
Ich soll jetzt aber in diesem „Orientierungskurs“ so tun, als ob die gesellschaftliche Basis dieses Landes „Bundesrepublik Deutschland“: seine Verfassung, das Grundgesetz, noch gültig sei.
Ich kann das nicht.
Die KursteilnehmerInnen sind intelligent. Sie sagten heute, am zweiten Tag des Unterrichts, dass das doch alles nicht stimmt, dass davon doch ganz viel verboten ist.
Und ich denke immer öfter an den Artikel 20 des GG, der in jedem OK-Lehrbuch steht und den auch mein Kurs wieder lesen wird. Darin definiert sich die BRD bekanntlich als föderaler, demokratischer Rechts- und Sozialstaat mit Gewaltenteilung.
In Absatz 4 des Artikels 20, den wir auch lesen werden, heißt es außerdem, dass es ein „Recht zum Widerstand“ gibt gegen jeden, „der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen“.
Mir hat dieser Absatz 4 des Art. 20 GG schon immer die größte Mühe bereitet. Ich habe ihn nie verstanden. Denn leider ist dort nicht erläutert, was dieses „Recht zum Widerstand“ umfasst. Wenn ich mich am Widerstand gegen die Beseitiger der demokratischen, rechtsstaatlichen Ordnung der deutschen Republik orientiere, die es vor der BRD gab, dann umfasst dieses Recht auch den Tyrannenmord und den an den Gehilfen des Tyrannen.
Zum Töten eines Menschen fehlt mir alles. (Jene Ärztin, die in jenem Provinzkrankenhaus erst eine völlig fehlerhafte Interpretation ihres Ultraschalls ablieferte und dann die mechanische Steuerung des Morphintropfes wieder einzustellen vergaß, an dessen ungebremstem Durchlauf der Lebensmensch dann binnen etwa einer Stunde verreckt ist – ich habe mich unzählige Male gefragt, warum ich sie nicht ermorden will.)
Vor allem fehlt mir die Mord-Lust.
Und für Notwehr bin ich mir selbst nicht wichtig genug.
Also fehlt mir tatsächlich alles dafür, das Widerstandsrecht anzuwenden, das mir im GG Art. 20, Absatz 4 zugesichert ist und das offenbar in manchen Situationen nur wenige Arten der Verwirklichung finden kann.
Im Moment sehe ich nur eine Option: Ich unterstütze die TeilnehmerInnen meines Orientierungskurses darin zu sehen, dass die Bundesrepublik Deutschland (ihre aktuelle Wahlheimat) dabei ist, das Grundgesetz ganz abzuschaffen, das bereits jetzt von den Regierenden dieses Landes, unterstützt von vielen aus der Judikative, zum größten Teil für ungültig erklärt worden ist.
Dass also die Achtung der Menschenwürde, die Meinungsfreiheit, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Rechtsstaatlichkeit und alles, was da dranhängt, in Gefahr steht, endgültig abgeschafft zu werden – von den Regierenden, den ParlamentarierInnen, der Judikative, den Medien und auch den ‚einfachen‘ Leuten, kurzum: von der Mehrheit der Menschen in diesem Land. Das nicht mehr meines ist.
Ich mache Gebrauch von GG Art. 20, Absatz 4.
Einstweilen durch Lächerlichkeiten.
Und mit jedem Tag werde ich fassungsloser und wird das Dunkel dichter.