„Zeugnis-Ablegen bis zum letzten.“ (Victor Klemperer)
„Ist zwîvel herzen nâchgebûr“, so beginnt der Prolog des mittelalterlichen deutschsprachigen Parzival-Romans von Wolfram von Eschenbach.* Und an diesem allerersten Vers haben sich unzählige AltgermanistInnen die Zähne ausgebissen (ganz zu schweigen von den folgenden gut hundert weiteren Prolog-Versen und dem Rest).
Ist der Zweifel ein Nachbar des Herzens, ist der Zweifel dem Herzen nah – ja was dann?! Mal abgesehen davon, dass Nachbarschaft und Nähe wohl auch um 1210 schon differente Zustände waren.
Wolfram schreibt weiter: „daz muoz der sêle werden sûr.“*
Und darauf können wir uns vielleicht über 800 Jahre hinweg verständigen.
Wem der Zweifel neben dem Herzen wohnt, der erlebt in der Seele einen dauernden Zitroneneis-Moment.
„De omnibus dubitandum“, so schrieb Marx ins Poesie- (oder sonstwie-)Album seiner Tochter Jenny, genau 100 Jahre vor meinem Geburtsjahr: ‚An allem ist zu zweifeln‘.
Ich weiß nicht mehr genau, wann mein Zitroneneis-Moment mir spürbar wurde, wann ich begriff (und es muss ein leibliches Begreifen gewesen sein), dass garantierte Süße jederzeit ergänzt werden kann durch eine Säure, die einem durch Mark, Bein und Muskeln saust und letztere in einem Verkrampfungsschock kurzzeitig entgleisen lässt, um den gesamten Organismus danach auf einem neuen Niveau wach und staunend – also im Urzustand der Philosophie – bei sich zu versammeln.
(Und dass das Süße erst durch diesen Kontrast seine Qualität erhält. Aber das nur am Rande.)
Irgendwann in der 5. oder 6. Klasse lasen wir einen Text mit dem Titel „Projekt Baby X“ (also irgendwann zwischen 1977 und 1979). Darin ging es um den Versuch eines Elternpaares, ihr Baby vor- und nachgeburtlich als ‚geschlechtsneutralen‘ Menschen gedeihen zu lassen. Kein Rosa, kein Blau, nirgends.
Ich kann mich nicht mehr genauer an diesen Text erinnern. (Soweit ich weiß, handelte es sich um eine einzige Geschichte des Scheiterns.) Doch ist er mein erster erinnerlicher Zitroneneis-Moment.
Zweifel sind seither lebensbestimmend für mich. Sauer, kratzig, hart – und immer wieder von herzenswärmender Süße.
Und deshalb gilt für mich: An allem ist zu zweifeln. Niemandem ist blind zu folgen. Alternativen gibt es immer und ihre Güte ist zu prüfen, und an denjenigen mit Gütesiegel ist dann erneut zu zweifeln. Und auch und gerade sich selbst und die eigenen Überzeugungen, Ansichten und Gefühlsäußerungen dem Zweifel zu unterziehen, ist Teil der täglichen, unabschließbaren Denkarbeit. (Hm, das könnte vielleicht auch als Definition von „Wissenschaft“ taugen – als Beschreibung von Menschlichkeit im 21. Jahrhundert erscheint es mir unhintergehbar.)
Und deshalb widern mich die Wielers („Hinterfragen Sie nichts!“) und die Merkels („Das ist alternativlos!“) und ihre Klone und SpeichelleckerInnen einfach nur an.
Immer werde ich, als agelstern varwe tuot*, schwarz, weiß und das Grau dazwischen im Gefieder der Elster sehen und haben.
Und dann und wann ein Zitroneneis.
*Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Einführung zum Text von Bernd Schirok. Berlin, New York 1998; V.1-2 und 6.
Und ich danke nicht nur dem toten Wolfram von Eschenbach, jenem mittelalterlichen Autor und Gesprächspartner u.a. von Frau Minne, sondern auch dem toten Bernhard Theobald, meinem Mann und Lebensmenschen, für ihre Worte und die Inspiration, die mir, und nicht nur mir, Lebenden daraus bis heute erwachsen.
Hallo Frau Laude,
alles zu bezweifeln ist noch längst kein kritisches Denken.
Viele Grüße
Maik Müller
Sehr geehrter Herr Müller,
kann es sein, dass Sie Langeweile hatten und deshalb eine Betätigung suchten, oder dass Sie das dringende Bedürfnis hatten, Ihren Namen im Internet zu lesen (oder dass beides zutrifft)? – Ich bitte Sie darum, diese Fragen still für sich zu bedenken und auf eine Antwort im Witwesk zu verzichten. Denn andernfalls käme wohl wieder etwas so Sinnfreies heraus wie Ihr letzter Kommentar, der keinerlei Bezug zum Kommentierten aufweist.
Nichtsdestotrotz (bzw. jetzt erst recht, denn es ist notwendig) weiterhin alles Gute wünscht Ihnen
Dr. Corinna Laude