Mitten in den Jahrestagen

„Zeugnis ablegen bis zum letzten.“ (Victor Klemperer)

Und bis heute habe ich sie nicht gelesen; das war immer Nach-Habilitationslektüre, so wie die Hurtigruten die Nach-Habilitationsreise gewesen wäre, samt Nordlicht und einem Knistern der Welt bei unserm Kuss in ihrem Eis.

Ja, besonders schwer ist die Zeit, in der sich das Unsere ballt. Das ist so ab Mitte August bis Ende Dezember.
Da sind unsere Geburtstage, die uns je nie besonders bedeutsam waren, die aber für den je andern von uns durchaus bedeutsam waren.
Da waren unsere Urlaube – heilig mir bis heute (und ich habe so viel vergessen, weil du, Liebster, mir unser Elefantengedächtnis warst und wir darauf vertrauten und bestanden, beide).
Da ist unser Hochzeitstag.
Da ist der Tag lange zuvor am Jahresende, an dem wir uns vornahmen, es mit uns zu versuchen.
Da war erst mein Diss.-Abgabe- und dann, nur ein bissl später, Dein Diss.-Abgabe-Tag.
Da war der Tag der 1. Diagnose.
Da sind die Chemo-Tage und jene, an denen ich Deinen Port spülte.
Da war der Todesnachhall des Tages der 2. Diagnose (die selbst war vor den Jahrestagen).
Da sind die Tage, an denen wir begriffen, dass dieses Medizin-System eine einzige Verarschungs- und Geldscheffelmaschine ist.
Da waren noch viel mehr klarsichtige Tage.
Da sind unsere Verzweiflung, unser Sprachverlust, unsere Liebe.
Da sind Deine Schmerzen. Die ich immer nur ahnte.
Da ist Deine Angst. Die ich immer nur ahnte.
Da ist der Tag unseres Todes.

Jahreslanges Dunkel.

Das Schimmern einiger Töne, erst von Geigen, dann von Hörnern, Flügeln und Gesang.

Jetzt – und das ist völlig neu: seit bald 5 Jahren Kampf.
„Kampf“!
Das ist neu für mich.
Ich habe gelernt, gearbeitet, geliebt und ich wäre gern gestorben. – Nie aber habe ich „gekämpft“ – gegen WEN?! Meine Mitwelt, in der ich lernte, arbeitete, liebte und gern gestorben wäre?
Seit dem Frühjahr 2020 kämpfe ich:
für die Wahrheit und die Vernunft.
Dieser Kampf jährt sich bald zum 5. Mal.
Und nie empfand ich mein Tun (Lernen, Arbeiten, Lieben, Sterben) sinnloser als jetzt diesen bald fünf Jahre andauernden Kampf: Die Leute bleiben dumm.
~ ~ ~
Vorgestern, Fio, liefen X – meine einst „beste Freundin“ – und ich uns zufällig über den Weg (in meinem Kiez; ich dachte, die hätte ihre Arbeitsregion längst verlegt, sofern sie als mehrfach Gespritzte, die auch ihre Kinder mehrfach sich spritzen ließ, überhaupt noch am Leben wäre). Vorgestern – anders als vor zwei Monaten – blickten wir uns in die Augen: Die blickte weg. Ich nicht. Was mir immer noch nicht gelang, war, der laut zu sagen: „Du feige Mitläuferin, schämst du dich nicht?“
Die Leute bleiben dumm.
Auch ich.
Weil ich einfach aus Respekt schweige, statt meiner einst ‚besten Freudin‘, die mir zufällig über den Weg läuft, endlich zu sagen, was ist: „Du feige Mitläuferin, schämst du dich nicht?“

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