„Zeugnis ablegen bis zum letzten.“ (Victor Klemperer)
Heute ist mein letzter Urlaubstag.
Lange habe ich hier nicht mehr geschrieben.
Lange war ich auf keinem Montagsspaziergang. Noch weitaus länger auf keiner Demo mehr.
Wie viele Menschen sind in unseren Kriegen gestorben?
Und ich habe erstmals seit 14 Jahren den 5. August nicht bedacht.
Was da war, fiel mir vorgestern beim Rennen plötzlich ein. Immerhin: Vor ein paar Jahren hätte mich das wortwörtlich aus der Bahn geworfen. Jetzt bin ich weitergerannt, erstaunt. Und habe dann nachts darüber nachgedacht und tu das nun wieder. Dazu gehört
eine Rekapitulation:
5. August 2009. Gegen 14 Uhr nachmittags. Ich sitze am Schreibtisch und schreibe an der Habil-Einleitung (1. Fassung). Das Telefon klingelt. Der Gastroenterologe ist dran. Er hatte vor knapp einer Woche die Geschwulst für eine Crohn-Stenose gehalten, dort, wo er ein gutes Jahr zuvor noch eine hochgradig krebsverdächtige „polypöse Struktur“ entdeckt hatte, die aber die Pathologie als null-nichts-niete befundet hatte.
„Es ist Krebs. Ihr Mann muss dringend operiert werden. Soll ich alles in die Wege leiten? Sie wissen ja von Ihrem Geschwister, dass ich das in Krankenhaus XY machen würde.“
„ ………… Krebs. Kein Crohn? ……… ‚Dringend‘, was heißt das?“
„Wenn ich es in die Wege leite, Anfang nächster Woche. Es ist dringend.“
„ ………… ……… Machen Sie das.“
Ich sitze, das ist das einzige, was ich weiß. Wo, weiß ich nicht. Wie, weiß ich nicht. Wann, weiß ich nicht. Und ich weiß – was ich aber erst später, 15 Monate später in mein Bewusstsein einließ: Es ist alles vorbei, es ist alles verloren, was ich mir in 20, was wir uns in bald 12 Jahren an Sicherheit, Zuverlässigkeit, Vertrauen in diese Welt erarbeitet hatten.
Es ist vorbei, ein für alle Mal verloren (und zum zweiten Mal verloren [nie hätte ich es gewinnen dürfen; doch dass ich es gewann, läßt mich bis heute dessen inne sein, was Menschsein heißen kann]).
„Dringend“ rauscht mir dann durch den Kopf. Es sei „dringend“.
Ich rufe den Arzt zurück.
Frage nach der Klassifizierung (damit kenne ich mich dank meiner Blutsfamilie aus) des Tumors, dessen Anfänge man vor einem guten Jahr noch für null-niente-nada hielt.
Ja. Ich sehe damals: Diese Klassifizierung macht alles „dringend“. Und macht, dass alles vorbei ist – vor allem für alles medizinische Person, das davon hört; erst recht ein knappes Jahr später, nach der Metastasierung.
Ich muss es ihm sagen. Der Arzt hat mich am Telefon gefragt, ob er meinen Mann anrufen und es ihm sagen solle. – ICH muss es ihm sagen. Soll noch ein winziges Hoffnungsfünkchen die Botschaft überspringen und ein kleines Gefühlsnest zum Glimmen bringen, dann muss ich es ihm sagen.
Ich fahre zu ihm ins Büro. Zum ersten Mal. Durch eine Stadt in einer U-Bahn. Frage mich zwischen allem Komplett-Stopp von allem (Gefühl, innerem Monolog, Außenwahrnehmung) immer wieder, wer ich bin, wohin ich unterwegs bin, ob ich bin. Und weiß keine Antworten. (Nein: „Wie ich es ihm sagen soll“, habe ich mich nicht gefragt.)
Ich stehe in seiner Tür. Sein für eine heilige Sekunde freudeüberstrahltes Gesicht aus dem verlorenen Leben. Zerbricht, etliche Momente bevor ich den Mund auftu’.
Wir sind nie wieder nach Hause gekommen.
Ich, schon längst eine Andere, kehrte 15 Monate später in die Wohnung zurück, die einst mein Mann und seine Frau bewohnt hatten (wenn auch nur für sehr kurze Zeit). Einst, damals, war ich diese Frau gewesen. Ich erinnerte mich, als ich im Dezember 2010 diese Wohnung betrat, an manches, auch daran.
Und ich, die ich heute wieder eine Andere bin als damals im Tod, erinnere mich weiterhin an vieles.
In diesem Jahr aber habe ich den 5. August, die Krebsdiagnose vergessen. Sie fielen mir erst kürzlich wieder ein.
Anders als noch vor kurzem mache ich mir das nicht mehr zum Vorwurf. Denn ich liebe den Toten unverbrüchlich.
Aber ich frage mich dennoch, warum das passiert ist.
Zeugt es vielleicht davon, dass ich nun tatsächlich ‚ankomme‘ im völligen Verlust aller Sicherheit, aller Zuverlässigkeit, allen Vertrauens in die Welt; zeugt es von einem Bewusstsein davon, dass alle Daten, alle Wahrnehmungen, alle Faktendeklarationen, alle Gefühle, alle Erinnerungen und alles Wissen dieser Welt null und nichtig sind – es immer schon waren?
Ich, an die ich mich erinnere, habe 2009-2010 erneut ÄrztInnen erlebt, die mit sadistischer Lust die Symptome, die sie vor sich sahen, für unmöglich erklärten, weil kein Lehrbuch sie verzeichnen würde, und die mit ebensolcher Lust Krebsmanifestationen erfanden, weil alle Lehrbücher sie verzeichneten.
Nach wie vor gilt: Solchen Wahnsinn in Kombination mit all den Schmerzen (physisch und psychisch) überlebt kein Mensch.
Er ist richtig gestorben.
Ich –
ich scheine langsam anzukommen im Einzigen, das DA ist, und natürlich auch weder Sicherheit, noch Verlässlichkeit, noch einen Vertrauensgrund bietet:
in mir & dem Moment,
der mich zweifelndes Schwebeteilchen umfängt als Atmosphäre meines Aufglimmens,
und – weil die Zeit immer zum Lachen führt –
der mich immer öfter lachen lässt.
Ja. Aufglimmen, Lachen.
Und ich bin immer wieder ein Moment. (Ein kämpferischer ist immer da.) Bis zum Ende.
Weil in zehn Tagen einer 60 wird, der lange vor seinem 50. Geburtstag starb:
Du weißt, ich glaub nicht dran,
dass Du das jetzt hier liest.
Du weißt, du glaubtest nicht dran,
dass Du das jetzt hier liest.
Ich schreibe das hier jetzt,
weil ich dich liebe, aber nie etwas glaubte.