Am 10. Juni wird es zehn Jahre her sein, dass wir die Peritonealkarzinose-Diagnose erhielten (von der sich nie wird klären lassen, ob sie – wie so vieles schon davor und auch noch in den wenigen Monaten danach – einfach wieder nur eine ärztliche Fehlleistung war oder nicht).
Damals hat dann wohl das Sterben endgültig, also „alternativlos“, im Kopf des Lebensmenschen begonnen. (Die angeblich einzige schulmedizinische Alternative in Gestalt der Ausweidung war ja auch nicht wirklich etwas, auf das zu setzen war – schon gar nicht angesichts der Ärzte dort, die einerseits ein riesiges Bauhau drum machten und andererseits mal eben zum anberaumten OP-Termin auf Dienstreise waren und sich von irgendwelchen Assistenten vertreten lassen wollten.)
Ich habe in der alten Post gelesen, dass ich noch in der Nacht zum Todestag eine „Rundmail an die Freude“ geschrieben habe. Hoffnungsvoll und gleichzeitig augenklar (wie schon seit ein paar Tagen).
Diese „Freunde“ haben sich nach dem Tod entweder nie oder noch ein-, zwei- oder gar dreimal von sich aus gemeldet und dann nicht mehr,
oder sie haben, nachdem sie die entstehende „Nullsamkeit“ lasen, mir die Freundschaft aufgekündigt,
oder sie haben sich ein paar Jahre nach unserem Tod vertschüsst (das aber waren nur die „Freunde“, die schon während unseres Sterbens und erst recht hinterher ganz genau wussten, was ich da alles falsch mache, und die zum Teil schon währenddessen zu feige waren, uns in dieser Situation zu sehen – also einfach mal zu Besuch zu kommen).
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Fazit:
Aus meinem Leben #1 gibt es außerfamiliär noch 4 Menschen, zu denen ich Kontakt habe.
Alle anderen haben sich ver(pisst-)tschüsst (sowas darf man ja nicht laut sagen). Und dass ich etlichen dazu verholfen habe, und sie darüber froh sind, weiß ich.
„Innerfamiliär“ gibt es jetzt nur noch zwei „angeheiratete“ Personen, zu denen ich Kontakt habe. Der Rest der „Angeheirateten“ hat sich ebenfalls ver(pisst-)tschüsst (sowas darf man ja nicht laut sagen). [Und die „Kinder“ hatten zurecht nie ein Interesse – ich jetzt auch nicht mehr daran, die Tante mit den lächerlichen Geldüberweisungen zweimal im Jahr zu sein.]
„Blutsfamilie“ war nie da. (Hat aber jahrzehntelang verlangt, dass ich beim kleinsten Huster gefälligst mein Leben hingebe – geschweige denn bei richtiger Krankheit.)
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Ich habe diese alte Post gelesen.
Diese Post habe ich per Mail geschrieben. Die Antworten – wenn sie überhaupt kamen – waren kurz. Besucher kamen gar nicht mehr (bis auf eine drei Wochen vorm Tod, und die war fatal).
Die Antworten sagten alle das, was einzig zu sagen war angesichts unseres Sterbens: „Ich verstehe nichts, kein Wort von Dir und Euch und Eurem Leben“.
Die Antworten sagten alle das, was einzig zu sagen ist zu mir: „Ich verstehe Dich nicht.“
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Ich kann mich erinnern. Das Gefühl des Allein² kroch damals – schon nach der 1. Krebs-Diagnose im August 2009 – rasch durch Haut, Muskeln, Knochen und nistet seither in meinem Mark, kalt und hart und wahr.
Nun war da eine Zeit so reich und sanft und voller Musik, dass deren Tage und Nächte dieses Gefühl im Knochenmark ein wenig anschmelzen ließen.
Jetzt aber ist alles wieder wahr und hart und kalt, ist alles wieder im Allein².
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Nach wie vor dem Tod ist eine kleine weiche warme Todesangst in mir. Und jeden Abend sage ich meinem Tod, dass er mir in dieser Angst willkommen ist. (Denn wenn ich ihn nicht irgendwann herbeizerren müsste, wäre das schrecklich schön.)
Ich habe zehn Jahre alte Post gelesen. Und sitze mir als Krähe auf der Schulter.
Meine Schultern sind gebeugt und stippen manchmal in die namenlose Not.
Meine Krähe fliegt mir dann auf den Kopf, und ich spüre ihren Herzschlag auf meiner Schädelkalotte durch ihre warmen weichen Federn hindurch. Dann muss ich lachen und sie wiederum krächzen.