Des Menschen Lebensunersättlichkeit

276 Gier

Heute las ich in der „Zeit“ (in die ich seit vielen Jahren nur noch selten gucke, weil sie schon vor langer Zeit so banal geworden ist) ein Interview mit einer Trauernden, deren Vater an (mit?) Covid19 gestorben ist. Mich hat vor allem interessiert, ob man erfährt, wie alt dieser Vater geworden ist.
Man tut es; dazu gleich.

Mein Vater ist mit 75 Jahren und nach etlichen Krankheitsleidensjahren gestorben. Ich war gerade 33 geworden, und einen Monat später fand die Disputation meiner Doktorarbeit statt.
Mein Lebensmensch ist mit knapp 47 Jahren gestorben, nach 15 Monaten des Krebsbehandlungsirrsinns. Ich war gerade 43 geworden, und danach fand in diesem Leben von mir nichts mehr statt: es war beendet.

Der Vater jener interviewten Frau wurde 80 Jahre alt und hat diese 80 Lebensjahre offenbar bei weitgehend guter Gesundheit und überwiegend in auch sonstigem Glück verleben dürfen („Bis zu seinem harten Tod hatte er ein schönes Leben“).

~ ~ ~
Bei der Lektüre dieses Interviews wurde mir wieder einmal klar, wie obsessiv die Menschen hierzulande unser aller (und damit die eigene) Sterblichkeit verleugnen.

Einigermaßen gesund und unbeschwert 80 Jahre alt werden zu dürfen – welch ein Geschenk!
Doch das sieht keiner mehr.
Alle erwarten: Ewigkeit. {Eine Vorstellung, die mir schon immer das größte Grauen bereitet hat.}

Und so sieht auch das Interview aus.
Nur ganz an dessen Ende taucht einmal kurz das Wort „dankbar“ auf – freilich geht es da nicht um Dankbarkeit dafür, dass der Vater so alt geworden ist (und noch dazu unter so glücklichen Umständen). Vielmehr geht es darum, dankbarer zu werden, weil es einem selbst ja gerade so gut ginge.
______________________

Heute habe ich noch einmal konsumiert. Ich habe nochmals zwei Kleidungsstücke gekauft: Der Kleiderschrankt enthält nun wirklich fast nichts mehr von der einstigen Uni-Dozentin. Und ich habe noch ein paar Teile vom neuen Geschirr gekauft (ja! Tatsächlich!).
Weil Wetter und Geisteslage so waren, konnte ich mit dem flitzeroten Fahrrad fahren, einmal quer durch die Innenstadt von West nach Ost (und wieder zurück). Dabei bin ich an Großgruppen von Menschen vorbeigekommen, die offenbar bei der morgigen Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen mitlaufen wollen. Reichsbürgerflaggen, Neonazi-Glatzköpfe, WutbürgerInnen, nicht nur sächselnde Ehepaare in Happening-Stimmung. Massenweise Polizei (schon gleich hinter der TU eine Wanne nach der anderen).
Die verleugnen alle miteinander genauso unser aller Sterblichkeit wie diejenigen, die etwaige Corona-Gefahren hoch- und runterbeten.

Ich bin ein witwesker Eisbär. Jetzt – nach bald zehn Jahren im Witwesk – mit neu bestücktem Kleider- und Geschirrschrank. Ich bin dankbar für die knapp 14 Lebensjahre, die ich mit dem Lebensmenschen verbringen konnte. Ich bin dankbar dafür, dass ich jetzt, im Jahre 10 auf der Eisscholle, psychisch und finanziell wieder imstande bin, ab und an Waren zu erwerben, die mir Momente ästhetischen Wohlgefallens schenken. Und ich lade fast jeden Abend meinen Tod zu mir ein (obwohl ich immer noch Angst vor ihm habe), denn ich bin sicher: Sterben zu können ist eine Gnade, und ich will nicht verlernen, dem Leben zumindest dafür dankbar zu sein.

Hier ist Platz für Ihren Kommentar. (Ich werde ihn lesen.)