Ein Blinder trägt nachts eine Fackel, derweil er die Straße entlanggeht. Gefragt, warum denn ausgerechnet er eine Fackel trage, antwortet er: „Solang die Fackel in meiner Hand ist, bewahren mich die Menschen davor, in den Graben und in die Dornen zu stürzen.“
Gesehen zu werden, so sagt Lèon Wurmser am Ende eines Vortrags von 2013 (https://www.youtube.com/watch?v=cERsvH-kyxw), an dem er auch die Geschichte dieses Blinden aus dem Talmud erzählt – gesehen zu werden „vom Anderen gibt dem Leben Schutz und Sinn“.
Es geht also zunächst nicht ums (auch biblische) „Erkanntwerden“, nicht ums ‚Durchschautwerden‘ durch den Anderen (biblisch: im Sexualakt*).
Es geht einfach erst einmal ums schlichte Gesehenwerden, ums Vorhandensein(dürfen) in der Wahrnehmungswelt eines Anderen – und damit außerhalb der eigenen Haut.
Es geht darum, vorhanden sein zu dürfen in der Welt, die auch immer nur eine wahrgenommene ist.
Einfach erst einmal vorhandensein dürfen als Wahrnehmungsfaktum brutum im Blick eines Anderen. Ohne Durchschauen, ohne Durchsehung, ohne Penetration, ohne Perspektive, ohne Deutung.
Aber alle wollen nur WEG SEHEN, wenn ein blinder Fackelträger ihren WEG kreuzt (oder ein Schwerkranker oder ein Verwitweter; das ist einerlei).
Alternativ zum Wegsehen exekutieren sie manchmal ein Erkennen, also ein Durchschauen, Durchdringen und Deuten des blinden Fackelträgers.
Dessen Fackel geht dann immer aus.
Und er trägt dann nichts mehr außer seiner eigenen Haut.
Und er steht dann, weil es mangels Welt um ihn keinen Weg mehr gibt.
(So ist das zum Beispiel im Witwesk.)
*1. Mose 4,1: „Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain […]“