Goldberg-Variationen im Witwesk!

„Zeugnis ablegen bis zum letzten.“ (Victor Klemperer)

Heute, nein: schon wieder gestern, war ich erstmals in meinem Leben in einem Konzert mit den Goldberg-Variationen, im Kammermusiksaal, also sehr intim und heilig (so erlebe ich die dortigen Konzerte oft – warum ich sie nicht häufiger besuche: Weil ich mehr Stimme und/oder mehr Wumms ebenfalls schätze und nicht so viel Geld habe).
Fazil Say hat sie gespielt. Und noch nie sah ich einen Pianisten beim Spielen so sehr und mit dem ganzen Körper tanzen. Es war atemberaubend (auch das Tempo).

Ich wusste: Dem Lebensmenschen hätte das einen unergründlichen Spaß bereitet.
Ich sah: All diese Paare, von 80something bis 16undnenKeks – und fragte mich endlich nicht: „Warum wir, warum nicht ihr?“, sondern war endlich wieder fähig, sie, all diese Paare, zu betrachten und zu denken: „Wie lebt ihr und wie werdet ihr sterben?“, da inmitten dieses von mir bis dato unerhörten Heiligtums aus Klang: Wohlklang, Dissonanz, Rhythmus, Spiel, Abenteuer, Zärtlichkeit, Schmerz und allverströmender Menschenliebe.

Der Lebensmensch fing nach der Diagnose sehr schnell mit dem „Warum ich“ an angesichts irgendwelcher fremder Menschen auf der Straße, die er für „warum nicht ihr“ hielt.
Ich fand das damals entsetzlich, denn – was wusste er denn über diese Menschen, über ihre Qualen, über ihre Tode.

Irgendwann – nach seinem Tod! – ertappte ich mich selbst bei diesem „Warum wir, warum nicht ihr?“
Bis heute ertappe ich mich bei diesem „Ihr hättet es so viel mehr verdient als er.“

Und dann geschieht ein Abend wie heute: Die Goldberg-Variationen dargebracht – was sag’ ich: getanzt auf der Klaviatur durch Fazil Say.

Und mich durchströmt ein so großes Glück, dass es mir scheint, es könne auch, vielleicht, wer weiß, womöglich, etwaig bis zu den Toten klingen.

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