Lektüren

263 Lektürenschicksale
Warum Befindlichkeitsprosa, die heutzutage stets zugleich auch massive Betroffenheitsprosa ist, Furore macht (immer noch, immer wieder), das vom Tod aufgezeichnete und mit seinen persönlichen Erinnerungen angereicherte Protokoll eines Sterbens aber keinen Buchrücken zum Anlehnen findet – das werde ich nie verstehen.
(Und dass mir ein Verleger einst schrieb: „[W]arum muss als Erzählinstanz eigentlich der Tod herhalten? Dem wir ja letztlich alle weniger gerne zuhören als dem Leben…“, das zeigte mir damals vor ein paar Jahren und bis heute nur wieder die blanke, weite Differenz zwischen den Menschen und mir.)

Doch ich muss das auch nicht mehr verstehen: Meine schriftstellerischen Serpentinen liegen hinter mir, all das Leben, Sterben, Widern „literarisch“ – es ist: vorbei.

Ich schreib nur noch hier, bei mir. (Und genau da, hier bei mir, vielleicht irgendwann sogar Roman Nr. 4 zu Ende.)

Doch ich habe wieder mit dem Lesen angefangen. Habe mich durch mein allerletztes (versprochen, Witwe!) Betroffenfindlichkeitsbuch gekämpft (ja: Selbstmorde im inneren Blutsfamilienkreise sind schrecklich, es aber dennoch zu einem auf einer jeden Seite glorifizierten nicht nur Sohn, sondern Sohnemann und zuvor schon zur Professur gebracht zu haben – das ist doch ganz schön, oder etwa nicht?), und habe begonnen mit einer persönlich mehr als heiklen Lektüre.
Es gibt einen Menschen, der davon weiß. Dem ich davon weiterhin erzählen kann, wenn ich mag. Er wird dann weiter fragen, so wie er nun schon damit begonnen hat. (Dass er das Buch nicht kennt, tut in diesem Falle der Sache keinen Abbruch: Wir führen keine literaturwissenschaftlichen Gespräche, denn ich bin ja keine Literaturwissenschaftlerin mehr, sondern ein witwesker Eisbär.)

Und womöglich wird dieses Buch mich endlich freigeben für den letzten Proust-Band und dann Johnsons „Jahrestage“ (die immer noch hinter der doch ausschließlich zu Leben #1 gehörenden paywall „Habilitation“ verborgen liegen und dort eigentlich auf Hurtigruten begonnen werden müssten – also hier, auf der Eisscholle namens Existenz#2, doppelt unzugänglich sind; und das völlig unabhängig von irgendwelchen Viren).

Es haben die Bücher nicht nur ihr Schicksal, sondern auch ihre Macht.

Hier ist Platz für Ihren Kommentar. (Ich werde ihn lesen.)