Stimmig

09 Das Fehlen

Da stelle ich mir vor, wie es wäre, frage mich, ob es mir möglich wäre, alle Zeit aufzugeben und nur noch im brutalplanen Jetzt zu sein, alle Erinnerung fahren zu lassen und damit, weil Zeit ja ein Gedankenkontinuum ist, auch gleichzeitig alle Hoffnung, also Zukunft.
– Und prompt träume ich vom Lebensmenschen, von dem ich in den ohnehin selten erinnerten Träumen so gut wie nie träume (in den neun Jahren seit dem Tod etwa 3-4 Mal), träume also vom Lebensmenschen und mir, träume Wiederholungsträume des Todes. Mal mit Rollentausch, mal ohne. Mal mit Wassertreten im entengrützigen hüfthohen Kneippbecken, mal im viel zu kleinen schwarzen kaputten Kleid, mal in einer Autowerkstatt, in der keine Autos repariert, sondern Todgeweihte mafiamäßig vertröstet werden, mal mit einem Autotransporter, der statt Autos Krankenbetten mit Palliativpatienten drin transportiert.

Aus diesem Krankenbett stand im letzten dieser zwei Träume der Lebensmensch auf und kletterte am Krankenbettentransporter-LKW herunter, während ich in und aus diesem schwarzen Kleidchen aufstand. Wir liefen aufeinander zu. Wir wussten um unseren Tod. Wir sahen, dass der Andere weinte. Wir hofften. Wir liefen zueinander, ineinander.

Er begann, den Kuss zu lösen. Ich fasste noch einmal nach, als sei es einfach unser Zungenspiel wie einst. Dann der Gedanke, dass ihm diese herabgebeugte Haltung noch mehr Schmerz zufügen wird, als ihm ohnehin im geschundenen Leib hockt. Da habe dann ich begonnen, unseren Kuss zu lösen.
Und bin aufgewacht.

Und alle Unterworfenheit war mit voller Wucht da wie seit langem nicht. Die Ohnmacht, die Angst, die Wut, die boden-, die end-, die lichtlose Traurigkeit, die Fassungslosigkeit: das Wissen, überstiegen zu werden, überbordet, und vollkommen überfragt zu sein: nicht gefragt zu werden.

Selten weine ich. Heute zweimal. (Wie immer hat es nichts geändert.)

Der Traum ist anders als alle bisher.

Er hat zwei Wünsche in mir geweckt; beide sind gleich:
Nochmals einen unserer Küsse zu träumen und nicht mehr aufzuwachen.
Unser beider zeitversetztes Kuss-Lösen aus dem Traum ins Witwesk zu übersetzen und meine Zunge dem Wintersprühregen, der weltpolitische Idiotie, den witwesken Sinnfragen herauszustrecken und sie dann in Buchstabensuppe zu stippen.

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