Die läuft auch jetzt auf das Ende zu wie immer. Und ich sehe – ticktackticktack – immer wieder ein Bild von damals: damals, also kurz vor dem Ende.
Ich habe ein Buch zu Ende gelesen. Eins, das mir nicht gehört. Der Lebensmensch hat es im ersten Jahr unseres Bundes seiner früheren Partnerin zum Geburtstag geschenkt.
Die hat es ihm im Todesjahr zurückgeschenkt.
Dann war es viele Jahre lang verschollen, bis es vor zwei, drei Jahren wieder auftauchte in einem Haus in der Pfalz. Und von dort an mich geriet.
Nun habe ich es viele Wochen lang gelesen, jetzt zu Ende.
Ticktackticktack.
Es erzählt eine der größten Liebesgeschichten, und ganz sicher mit die verrückteste überhaupt. Um dieser Geschichte willen liebe ich es. Es erzählt von dem, was ich selbst fühlen und in den Augen des Lebensmenschen sehen durfte, wenn er mich ansah, manchmal.
Es gehört mir nicht.
Er hat es nicht mir geschenkt, sondern seiner 2. oder 2½sten Partnerin.
Doch es ist nun auf seltsamen Umwegen zu mir gekommen.
Und ich habe es gelesen: Habe eine der wundervollsten Lieben gelesen, die die Literatur erzählt.
Und liebe den Lebensmenschen, liebe den toten Lebensmenschen. Weiß nicht, warum er gestorben ist, da vor zehn Jahren, weiß es nicht.
Und weiß wieder einmal: Ich habe nicht gereicht. Meine Liebe hat nicht gereicht.
Nicht mir hat er diese Geschichte geschenkt.
Er hat sie im ersten Jahr unseres Bundes einem Menschen geschenkt, der ihn zwei Jahre zuvor verlassen hatte, weil ein anderer Mann für diesen Menschen potenter war; hat sie einem Menschen geschenkt, der ganz am Schluss – nach etlichen Jahren – wenige Tage vor dem Tod des Lebensmenschen zu Besuch kam und den Tod im Handgepäck hatte.
Nicht mir hat er dieses Buch, diese ungeheuerlich große Liebesgeschichte geschenkt. Sondern diesem Menschen, seiner vorigen Partnerin.
Nun, da das Buch auf seltsamen Wegen zu mir gekommen ist, habe ich es gelesen. Ich habe lange daran gelesen. Und wieder gelernt, dass ich nicht reiche, nie gereicht habe, dass meine Liebe nicht gereicht hat.
Ich liebe den Lebensmenschen. Immer noch. – Jetzt darf ich das gefahrlos. Damals habe ich das nicht gedurft, weil ich nicht reiche.
Aber ich habe es getan.
(Wenn ich dem Lebensmenschen – wie jener Mensch, dem er das Buch geschenkt hat und der kurz vor seinem Tod mit dem Tod im Handgepäck zu Besuch kam – wenigstens beim Sterben hätte behilflich sein können … Aber auch dazu habe ich nicht gereicht, weil ich nicht reiche.)
~ ~ ~
Jener Mensch, die vorige Partnerin, hat mich ein paar Tage nach dem Tod durch eine Verwandte gebeten, das Buch bitte zurückzusenden. Ich habe – ein paar Tage nach dem Tod in unserem gottverdammten Gepäck und sogar in dieser gottverdammten Ferienwohnung – einen gottverdammten Tag lang nach diesem Buch gesucht. Ich habe es nicht gefunden. Es ist erst sechs, sieben oder acht Jahre später zu mir gekommen.
Dieser Mensch hat den Tod im Handgepäck. Schon immer. Das reicht.
Der Lebensmensch hat diesem Menschen das Buch im ersten Jahr unseres Bundes geschenkt. Nicht mir.
Jetzt ist das Buch zu mir gekommen. Ich habe es gelesen. Ich habe die größte Liebesgeschichte meines Lektürelebens gelesen.
Ich bin das, was ihr „todtraurig“ nennt: Nicht mir hat der Lebensmensch dieses Buch geschenkt.
Ich bin tiefglücklich, weil ich dieses Buch nun lesen konnte, das Worte hat für eine ganz große Liebe, und weil es mir damit sagt, dass die Liebe, die ich erlebt habe (was immer wieder von Manchem angezweifelt wird), keine Einbildung ist: kein Phantasma und kein Narzissmus – nö: Sowas gibt’s dann und wann tatsächlich, und sogar inmitten allen Ungenügens.
Dieses Buch, das mir nicht gehört, steht nun in unserem Bücherregal zwischen unseren Büchern, meinen und denen des Lebensmenschen, denn jene Frau hat es ihm zurückgeschenkt.
Danach, nach dem Tod aber wollte sie es wiederhaben. Dafür wäre sie besser ohne den Tod im Handgepäck zu Besuch gekommen.
Sie hätte – im Gegensatz zu mir – vermutlich gereicht.
Dürfen wir erfahren, welches Buch da geschenkt wurde?
Ich habe Ihnen per E-Mail geantwortet, da mir dieser Wunsch – „wir“ hin oder her – doch sehr individuell zu sein scheint.