Leben im Witwesk wird (womöglich) zu: Witwesk leben

November also, wieder einmal. Der elf/zehnte im Witwesk.
Wie immer rutschen Momente aus dem Sterben ins Jetzt: immer Bilder (meist nur ein Schnipsel, wie von einem zerfetzten Foto), oft auch ein Ton (interessanterweise stets ohne Geräusch), manchmal ein Gefühl (doch die sind von allem am schlechtesten zu fassen).

Ich habe während drei, vier Jahren nach dem Tod diese Momente und einige andere aufzuschreiben versucht. Irgendwann wiederholten sie sich, aber ich fand keine neuen Wörter mehr. Da habe ich damit aufgehört.
Die Wörter, die ich gefunden habe, halte ich nach wie vor für gültig als Moment-Aufnahmen. Sie stehen in der „Nullsamkeit“. Manch verwackelte sind – obwohl ich damals bei der Auswahl wirklich lange gesiebt habe – hineingeraten, denn wie sie zum Dekor zerlaufen, bildet auch etwas ab, das war. Ein paar sind sehr scharf und zeigen genau den exakten Bildausschnitt.

Und weil ich auch als witwesker Eisbär anfangs noch dachte, ohne kohärente Geschichte nicht leben zu können, ließ ich dann einen Anderen in mir aus diesen und etlichen anderen Momenten heraus eine Geschichte mit Anfang und Mitte und Ende machen. Sie steht im „WEG SEHEN“.
Dort steht kein Wort zu viel, keins zu wenig und kein verwackeltes, denn sie gehen nicht auf Fotofetzen zurück und diese Worte erzählt in mir ein Anderer aus mir heraus.
Doch auch dessen Geschichte ist nicht kohärent.

Mittlerweile bin ich angekommen im Witwesk: in Wittibs kafkaeskem wild, wild west. Da gibt es keinerlei kohärente Geschichten, keinerlei Synästhesien und auch keine Wortunerschöpflichkeit. Was es da gibt, steht zum Teil hier.
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Gestern gab es dort die letzte Oper. Denn dank Ordre de Mutti müssen ab heute erneut alle Kulturspielstätten schließen. Für den ganzen Todesmonat November. (Dabei war ich so froh, an seinem Ende erstmals eine Totenmesse, die Messa da Requiem von Verdi, lebendig gespielt hören zu dürfen, sofern ich solange leben würde.)
Die letzte Oper gestern schloss fulminant (und so passend) mit der Zugabe aus dem dritten Akt, der Schluss-Fuge Tutto nel mondo è burla, l’uom è nato burlone. („Alles auf der Welt/Die ganze Welt ist ein Scherz, der Mensch wird als Narr geboren.“)
Und ich bin erneut neugierig geworden auf einen ungeheuerlichen, blutjungen Sopran, den ich schon ein-, zweimal gehört habe und vielleicht nochmal oder niemehr: Meechot Marrero.

Apropos Neugier: Ich habe bereits vor ein paar Tagen beschlossen, endlich im Witwesk anzukommen, denn ich bin nun seit fast zehn Jahren darin, und sich immer noch dagegen zu wehren, nur weil damals mein Sterben vergeblich war, ist mittlerweile lächerlich: Ich bin mit meinem Tod damals gescheitert, und noch nie hat im Falle eines Scheiterns ein Grund gezählt: Versager bleibt Versager (auch „Oxaliplatinversager“, thx@ Herrn Prof. Dr. Piso, Regensburg: Zu lernen, so einer zu sein, hat dem Lebensmenschen damals bei seinem Beschluss vermutlich ungemein geholfen).

Also habe ich beschlossen: Wenn der Tod zum 11. Mal über mich gekommen sein wird und ich mich – ebenso ungefragt – danach zum 11. Mal wieder in die Welt gestellt haben sollte, dann werde ich nicht mehr nur im Witwesk sein, nö,
dann werde ich witwesk leben.

{Und das mache ich doch schon längst, unbeachteter- nein: uneingestandenermaßen.
Letzte Beispiele: Die Sofa-Reparatur; die Gefühle bei der Lektüre jenes nicht mir geschenkten, nun aber auf mich gekommenen Buches; die Opern und Konzerte. Was ich seither spüre, ist, wie Lebenslust & Todesmut in mir gedeihen. Und ich erfreue mich an beidem gleichermaßen.}

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