Von Stunde zu Stunde

249 Evolution

Von Stunde zu Stunde lebte ich am Ende von Leben #1 etliche Monate und am Anfang vom Witwesk viele Jahre lang.

Ich vermag das jederzeit wieder zu tun: von Stunde zu Stunde zu leben und immer dessen gewahr zu sein, dass jederzeit alles völlig anders sein und auch der Tod kommen kann (und der eigene willkommen ist).
Nur gilt das jetzt nicht mehr nur für mich und meinesgleichen, sondern für alle Menschen. Und die meisten sind das nicht gewohnt. Die meisten haben nie erfahren, wie das ist: Von Stunde zu Stunde zu leben und des Todes gewiss zu sein (oder ihn gar willkommen zu heißen: wohlgemerkt den EIGENEN Tod).

„Und spinne diese Quarantäne weiter: Womöglich wäre ein gänzliches Einstellen unseres ‚öffentlichen Lebens‘ für zwei Wochen […]“ (aus: Witwesk, 10.03.2020) – das zitiere ich jetzt, dabei war es mir schon immer, auch in den wissenschaftlichen Arbeiten des Lebens #1, peinlich, mich selbst zu zitieren.
Jetzt ist es mir doppelt peinlich, denn ich haben einen Fehler gemacht, den man nun im Zitat nachlesen kann:
Es geht nicht mehr um „zwei Wochen“.

Und es geht auch nicht mehr um die nun einstweilen regierungsoffiziell verhängten fünf Wochen bis zum Osterferien-Ende.
Es geht um Monate. Vermutlich um mindestens ein Jahr, bis vielleicht ein Impfstoff gegen „das Virus“ gefunden sein wird.

Derzeit sehe ich keinen Weg, wie das gehen soll für die Menschen.
Drei, sechs, neun, zwölf Monate ohne Arbeit, also ohne Lohn und narzisstisch Brot, und ohne circenses: ohne Kneipe, Schwoof, Kino, Bibliothek, Museum, Konzert, also ohne all das Menschenmachende – wie soll das gehen für die Erwachsenen?
Drei, sechs, neun, zwölf Monate ohne Schule, ohne Ausbildung, ohne Studium, also ohne Sozialisation und Kultivierung von Bildungsprozessen für die Heranwachsenden, wie soll das gehen?

Wie soll das gehen für die Menschen?
Die nicht gelernt haben, von Stunde zu Stunde zu leben, weil sie nie erLEBT haben, wie es ist, wenn der Tod das Leben, ihr Leben, mitten entzweibricht.
Die denken, sie hätten ein Recht auf Leben, auf Coffee to go (mittlerweile im nachhaltigen Tauschbecher), auf Karriere&Kind(er), auf Planbarkeit und Sicherheit und Glück.
Wie soll das, was jetzt ist, gehen mit diesen Menschen?!

Und ich persönlich, der witweske Eisbär, dem die Menschen schon so lange fremd geworden sind, spüre, wie mir ihr Schicksal nun doch ans Herz zu gehen beginnt:

Es ist unabwendbar, dass sich auch jetzt wiederholen wird, was sich immer ereignete, wenn es für Menschen „ums Überleben“ ging (und übrigens: Das geschieht alle paar hundert Jahre mal massiv und massenhaft, die Spanische Grippe ist da eher noch putzig – ich denke tatsächlich 700 Jahre zurück, was menschheitsgeschlichtlich ja lächerlich ist, doch da starb in Europa etwa ein Drittel aller Menschen binnen weniger Jahre an der sogenannten Pest, und es waren Kinder, Erwachsene und Alte – es starben alle).

Der zivilisatorische Firniss ist immer zu dünn gewesen, und er ist bis heute zu dünn, also wird sich auch jetzt wiederholen, was sich immer ereignet hat, wenn es „ums Überleben“ ging:
Die Bestie, die wir allesamt nach wie vor in uns tragen, wird aufs Neue aufstehen und aus Unzähligen von uns herausbrechen.

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Und hinterher wird erneut, wie schon unzählige Male zuvor, über das Loch im Gewebe der RaumZeit von den Menschen, die es hineingerissen (oder dabei zugesehen) haben und zufällig nicht hineingestürzt sind, also von den „Überlebenden“ einfach Stille gefegt werden über dieses Loch, dessen Nichts bis zum Beginn der Menschheit zurückreicht – die alles besänftigende, alles ausfüllende, alles stillende Stille der Geschäftigkeit.

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Wie ich das da nun schaffen soll – ohne DaZel-Honorar, ohne Musik-Erleben und womöglich irgendwann bald ohne Miete und ohne jeden Kontakt –, das weiß ich nicht.
Aber ich weiß: Es kommt auf mich für keinen Menschen mehr an. (Das macht mich leicht und ein wenig fröhlich. – Und das ist gut, denn ich vermisse den Lebensmenschen in diesen Tagen bitterlich.)
Und ich spüre: Von Stunde zu Stunde verringert sich meine ohnehin nur sacht vorhandene Angst vorm Sterben und vorm Tod.

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