„Zeugnis-Ablegen bis zum letzten.“ (Victor Klemperer)
Mein einer Großvater war ein Langzeit-Toter, der andere war beglückt, wenn ich auf seinem Schoß saß und ihn an seinen behaarten Ohren kraulte. Beide waren mir unheimlich, da so mit drei, vier, fünf.
Auch der Ohrenkraulbeglückte starb dann. Ob ich da schon in die Schule ging, habe ich vergessen.
Die Großmütter habe ich länger erlebt. Die eine gar, bis ich Anfang 20 war.
Zu reden war nie. Mit keiner. Nie über ihre besten Jahre da von 1933 bis 1945.
Sie haben mich gelehrt:
Was Schweigen ist. Schuld. Und Verzweiflung. Und dass sich all das vererbt.
Ohne es mir je schwören zu müssen, weiß ich: Ich werde anders sterben als meine Großeltern, denn ich versuche – so gut ich es vermag –, anders zu leben.
Ich versuche, nicht zu schweigen.
Ich versuche, mir meine Schuld anzusehen.
Ich versuche, die Verzweiflung bei mir zu behalten und dort zu balancieren.
Sollte es mir gelingen, diese Versuche weiterhin zu praktizieren, könnte es mir gelingen, anders zu sterben als meine Großeltern.
Selbstbestimmt.
Mein Grab kenne ich. Es liegt in einem südpfälzischen Dorf. In ihm liegt – in etlichen Metern Tiefe – bereits mein amîs unde man Fio seit über elfeinhalb Jahren. Ich werde einen oder anderthalb Meter über ihm begraben werden. Es wird keine Trauernden geben. Mein sich zersetzender Leib, später dann meine Knochen werden auf seine Knochen durchsickern.
Ich lebe anders als meine Großeltern. Ich versuche, zu unserem totalitaristischen Unheil nicht zu schweigen; versuche, zum Kriegswahnsinn nicht zu schweigen; versuche, als aufrechter Mensch mit zwei Augen, zwei Ohren und einem Mund zu leben und nicht wegzusehen, wegzuhören, nicht zu schweigen. – Letztlich Ars moriendi. (Also allerletztlich: Egoismus. Und da bin ich dann doch wieder ganz in meiner Familie, trennt mich nichts von meinen Großeltern. Sie alle wollten „letztlich“ nur einen guten Tod. Keiner hat ihn bekommen. Doch wenn von uns allen niemand ein „gutes“ Leben haben konnte, so besteht in der Enkelgeneration durchaus die Hoffnung auf einen guten Tod: selbstbestimmt, klar und wenn auch nicht gänzlich ohne Angst, so doch ohne Qual.)
Mein Großeltern, all ihr Totschweigen, Mitlaufen und ihre elendigen Tode haben mich gelehrt:
Menschsein heißt höchstes Risiko. Menschlich sein. Eigenständig leben. Und dann (wenn möglich) selbstverantwortet sterben.
{Und vermutlich tue ich meinen Großeltern Unrecht. Vermutlich hatten sie in all diesen Jahren des unmenschlichen Schreckens auch klare Momente und gute Taten. Doch warum haben sie nie davon erzählt, auch nicht, als ich sie fragte, die eine Oma, die noch lebte? Vielleicht also tue ich ihnen auch nicht Unrecht, und sie waren so.}
Menschsein heißt höchstes Risiko. Menschlich sein. Eigenständig leben. Und dann (wenn möglich) selbstwillig sterben.