Ein ganz normaler Tag

262 Begegnungen
Heute traf ich einen Menschen aus meinem Leben #1. Darin hatten wir nicht viel miteinander zu tun. Ich habe seinen Vortrag auf einer Tagung mal moderiert, auf der ich selbst – von jemand anderem moderiert – vortrug, er hat mir dann einige Rezensionen angeboten. Er war damals schon alt. Ich noch vergleichsweise jung. Dass er an der Grenze meines Kiezes wohnt, wusste ich seit Jahren, seit damals, als ich ein halbes Witwenjahr für die Biocompany auf Minijobbasis malochte, also Kassenjonglage sowie Tomatenhochstapelei für die betrieb und er da plötzlich als Kunde vor mir stand. – War ’ne skurrile Begegnung: Der Herr pensionierte Privatdozent mit seinen Biotomaten auf dem Kassenband und die Ex-fast-Professorin da nun im Supermarkt-Kittel hinter der Kasse.

Auch heute wieder war das eine skurrile Begegnung. Wir haben uns fünf Jahre nicht gesehen. Heute war es für uns beide unvermeidlich.
Und der hat kein Wort von dem, was ich auf seine zwei Fragen sagte (Was machen Sie denn jetzt, Stimmt die Vergütung), gehört. Der hat dann einfach nur vor sich hin und von sich gesprochen. Ich habe jedes seiner Worte gehört. Nicht ein einziges war eine Reaktion auf ein Wort von mir. Nicht ein einziges.

Er wohnt am See und kauft in einer alteingessenen und teuren Biobäckerei hier ein – sein Leben also ist so heilig verlaufen und wird entsprechend vergütet wie das vom akademischen Durchschnitt.

Wenn ich diesen lange schon pensionierten Privatdozenten das nächste Mal sehe, werde ich den von meinen Erzeugern mir im frühesten Kindesalter antrainierten Höflichkeitsreflex AB-SCHAL-TEN und einfach durch den hindurch sehen. Ich bin sicher: Jener Mann wird erleichtert sein und seinen 5 Euro-Bio-Latte (oder jetzt vielleicht sogar 7-Euro-Bio-Latte?) entspannter trinken können.

Dass ich heute danach im Hinterhof auf eine neue Nachbarin (Mutti von Kleinkind) traf, die irgendsoeinen Elektrogrillwagen herrichtete, derweil ich meinen frisch vom Discounter für knapp 10 außerplanmäßige Euro erworbenen, über 1m großen Ficus in den Topf pflanzte, in dem mein eigener etwa 30 Jahre alter Ficus vor kurzem verstorben ist, passte zu diesem Tag:
Jene Nachbarin pries mir ihren Elektrogrillwagen an, denn den könne jeder im Haus benutzen, sie würde noch einen Aushang machen. Ich sagte ihr: „Sorry, ich bin Witwe, da grillt man nicht mehr.“
Sie verstand, ich sei „Veggi“.
Ich habe dann wiederholt, dass ich Witwe bin und dass ich nicht mehr grille. Die hat mich daraufhin eingeladen zu ihrem Kinderspektakel-Grillabend heute.

Was denken die Menschen eigentlich?
Denken die überhaupt?

„Denken“ heißt: Nicht Instinkt, nicht Gefühl walten zu lassen. „Denken“ heißt: Von seinen Instinkten, seinen Gefühlen Abstand nehmen und somit außerhalb seiner bloßen Kreatürlichkeit kognitive Operationen anstellen zu können, die anderen Subjekten und Objekten gelten (also nicht immer nur sich selbst), heißt also auch: Perspektivwechsel.
Ich übrigens weiß, was der pensionierte Privatdozent denkt, und ich weiß, was die mittelalte Mutter des Kleinkinds denkt, wenn sie mir gegenüberstehen. Und da gehört gar nicht viel Intellekt dazu: Deren Reaktionen auf mich sind glasklar. Und genau deshalb frage ich:

Was denken die Menschen eigentlich?
Denken die überhaupt?

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