„Zeugnis-Ablegen bis zum letzten.“ (Victor Klemperer)
„Gutzel“ heißt auf Pfälzisch Bonbon.
Heute, nein, schon wieder gestern beim Montagsspaziergang durfte ich eins ganz langsam in meiner Mundhöhle schmelzen lassen.
Eine Frau mit anglophonem Akzent und vielleicht wenigen Lebensjahren mehr als ich, die seit einiger Zeit mitspaziert und mit der ich mich ein- oder zweimal kurz unterhalten hatte, sprach mich an, um mir gute Hinweise zum stimmlichen Umgang mit dem sperrigen Megafon (ein Dauerfrust-Thema) zu geben. Später dann sprach sie mich noch einmal an. Ich hätte irgendwann erwähnt, dass mein Mann gestorben sei. Wann denn? Oh. Und ob ich denn sicher sei, dass er jetzt mitspazieren würde? Wieder antwortete ich. Und fragte sie, ob sie einen Partner hätte.
Ja, tot, seit acht Jahren.
Da sagte ich, dass mir der Lebensmensch bis heute fehlt, ganz grundsätzlich fehlt.
Die andere Witwe sagte nur: Ja, mir auch, ich kann gar nicht sagen, wie.
Danach haben wir zwei noch darüber sprechen können, wo uns unsere Lebensmenschen fehlen und wo wir einfach nur froh sind, dass sie das alles nicht mehr erleben müssen (es gab jeweils Unterschiede, wundert das?).
Ein paar Jahre vor Corona waren solche Menschen wie wir von der Wisch-und-Weg-Gesellschaft der TodespanikerInnen zu Kranken deklariert worden, uns hat man die Diagnose „pathologische Trauerreaktion“ verpasst, die demnächst auch eine eigene ICD-Nr. bekommen wird (ich habe in diesem Blog vereinzelt darüber berichtet). Das war getan worden von Menschen, die entweder nie einen grundstürzlerischen Verlust in ihrem Leben erleiden mussten, weil sie nie eine grundstürzlerische Liebe erlebt haben, oder die sich darüber hinweggedrängt und selbigen und selbige verdrängt haben.
Relativ schnell war mir das weitgehend egal. Weitgehend, denn nicht nur das Unverständnis, sondern insbesondere die Feindseligkeit, die ich als meinem Toten unverbrüchlich verbundene Witwe v.a. bei Männern hervorrief, warf mich beständig in eine Fremdaggression, die mir das Ignorieren meiner Pathologisierung erschwerte. Und die einen Zorn in mir wachsen ließ, der bis heute blüht und gedeiht, weil nichts aufgehört hat.
Gestern da, dieses kurze Wort der Witwenschaft: Mir fehlt er auch, ich kann gar nicht sagen, wie – nach acht, nach zwölf, nach langen Jahren
das war mir ein Menschlichkeitsgutzel.
Lange balancierte ich es vorsichtig in meiner Mundhöhle, mich erprobend an seiner Süße, die dann und wann durch Säure aufgeschreckt wurde, und natürlich klemmte es irgendwann scharfkantig kurz mal an der Zunge fest, eine kleine Schrunde hinterlassend. Noch immer schwebt mir der Geschmack im Mund und dieses kleine scharfe süße Weh auf der Zunge.
Es ist völlig in Ordnung, wenn man seinen toten Liebsten nicht ersetzt, ihn nicht vergisst und ihm im Gegensatz zu sich selbst verzeiht.
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Schon am 30. Dezember, als ich den 30.-Dezember-Eintrag hier schrieb und über die seltsame Erfahrung während dieses Films zwei Tage zuvor nachdachte – ach Quatsch! Schon viel früher, spätestens seitdem ich die Menschheit wirklich verloren gebe, arbeitet es in mir.
Also seit etwa einem Vierteljahr endgiltig (sic), seitdem ich das erleben muss, was schon 1945 – nach noch ganz anderen Menschheitsverbrechen! – war (ich lese immer noch Victor Klemperers Nachkriegstagebuch).
Sie versuchen, davon zu kommen.
Und diesmal sind sie in der Überzahl. Und die Mehrheit dieser Überzahl ist psychisch völlig defomiert durch den Dauerbeschuss mit Panik und Drohung und Nudging in der medialen Dauer-Propagagashow.
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Heute, beim Spaziergang erlebte ich seit langer Zeit wieder, was ich insgesamt extrem selten erlebt habe: Es ist völlig in Ordnung, um einen Menschen und ein gemeinsames Leben zu trauern – auch nach x, auch nach 12 Jahren noch. Es ist völlig in Ordnung, sein Lebensexperiment als grundstürzlerisch gescheitert erlebt zu haben und fürderhin nur noch, erst recht nach den letzten drei Jahren nur noch
Menschlichkeitsgutzel
zu sammeln, um sie mir mal sofort, mal erst lange später, mit klammen Fingern sie auswickelnd, in den Mund zu schieben und dort zu balancieren, bis auch das letzte Bisschen Süße und Säure vergangen sind.
Es ist völlig in Ordnung. Kämpfen. Aufgeben. Leben. Sterben.
Und während all dessen werde ich künftig und hoffentlich bis an mein Ende die mir gereichten Menschlichkeitsgutzel sammeln, sie dann und wann auswickeln, mir in den Mund schieben und sie dort balancieren, bis sie – dann und wann unter leichter Schrundenbildung auf Zunge und Wangeninnerem und bei süßsalzigstem Wohlgeschmack – sich aufgelöst haben werden, wie ich mich irgendwann in meinem Leben aufgelöst haben werde.
Es ist mein Leben. Das hat keine Verbindung zu irgendeinem anderen Leben, das habe ich 2009-2011 endgültig erfahren. Es hat sich unter Corona nur um den Faktor 10 verstärkt wiederholt.
Es ist mein Leben, es ist mein Tod. So haben bis 2020 unzählige Hochbetagte hierzulande gedacht. Doch dann kamen Merkel, Scholz, Drosten, Wieler, Priese- und Brinkmann, Lauterbach und die anderen. Und die haben ganz anderes gebracht. Die haben einen grausamen Tod von ihren eigenen Gnaden gebracht über unzählige Hochbetagte hierzulande.
Ich bin nicht hochbetagt, und ich werde den Teufel tun, aber nicht innerhalb dieses totalitären Regimes hochbetagt werden, doch ich sammle von nun an Menschlichkeitsgutzel.
Manche davon hebe ich hier auf. Für spätere Menschen. (Man weiß ja nie, vielleicht gibt es die sogar.)