Nach Selbstzensur doch noch hier: Nacht. Stille. Im Februar 2021.

Das ganze Tableau

(Etwas in mir arbeitet sich noch immer ab an dem kürzlich erhaltenen Satz: „Ich find’s gut, dass das Bamf so genau hinguckt, wenn es um die Rechnungen geht“ – wie gern wäre ich in der Position der Satz-Sagerin: Lange im Ruhestand nach einem Berufsleben voll von intellektueller Selbstverwirklichung sowie professoraler Beamtenbezüge des Gatten. Doch ich bin nicht in deren Position, und ich werde nie in deren Position sein.
Aber ich kann jetzt nicht mehr.
Ich kann das jetzt nicht mehr. Ich kann es nicht mehr ertragen, dass mir aus solcher Blase heraus ins Gesicht gesagt wird: „Gut, dass das Bamf da so genau ist.“ Ich kann nicht mehr erklären, dass das Bamf nicht „genau“ ist, sondern mir – und all meinen KollegInnen – kategorisch unterstellt, dass ich lüge und betrüge und kriminell bin.
Mir, die ich – wie viele meiner KollegInnen, nur nicht die an den VHS – im letzten Jahr etliche Monate lang für netto etwa 2,50 Euro/h in den vom Bamf bezahlten „online-[Integrationskurs-]Tutorien“ gearbeitet habe, damit meine DeutschlernerInnen nicht komplett abgehängt werden. Und die ich – wie fast alle meiner KollegInnen – in den vom Bamf bezahlten regulären Präsenz- oder online-Kursen für etwa 12-14 € netto arbeite.
Ich kann das jetzt nicht mehr. Denn: )

Es ist Nacht. Es ist Stille.

In meinem Kopf ist das ganze Tableau. Alles, was in meinen zehn Jahren im Witwesk jetzt zusammengekommen ist, bis heute. Bis zu diesem heutigen Tag (also einschließlich dieses Satzes aus der mentalen und pekuniären Wohlstandsblase).

Es ist Nacht. Es ist still. Und in meinem Kopf ist das ganze Tableau.
Was wir im Krebs erlebt haben.
Was ich nach unserem Tod erlebt habe.
Was ein Minijob heißt. Und was ein Minijob in der „Bio Company“ heißt.
Was es heißt, für das Bamf als Integrationskursdozentin zu arbeiten.
Was es heißt, mit religiösem Wahnsinn leben zu müssen.
Was es heißt, unter permanentem Gesinnungstuningterror leben zu müssen.
Was es heißt, in der Zeit zu leben, die aller dialektischen Aufklärungserrungenschaften verlustig geht.

Das ganze Tableau. Alles da.

~ ~ ~
Es ist Nacht. Es ist Stille.
Das hier ist mein weißes Blatt, das ich mit Buchstaben fülle.
Du fehlst mir, Liebster. Und schon seit geraumer Zeit bin ich ganztief froh darüber, dass Du jetzt nicht mehr lebst.

Du wärest vielleicht noch viel fassungsloser als ich (falls das geht).
Das wäre aber womöglich, nunja, vielleicht
hätten wir jetzt zusammen gehen können. – Nichtiger Gedanke.

Du wärest aber vielleicht auch viel aktiver, als ich es jetzt bin, weil wir beide immer noch unseres Gehaltenseins teilhaftig wären und kräftig und mitten im Leben und unterm Engelsflügel.

Verzeih, dass ich nunmehr belächle, was uns einst möglich war und vielleicht immer noch möglich wäre – Du hast meine letzten zehn Jahre nicht erlebt.

Vielleicht aber wärest Du auch viel klarer als ich und fähig, fortzugehen.

Nein, Liebster, Deinen Tod habe ich nicht vergessen.
Aber das war damals kein „Fortgehen“: Dein Tod hat Dich geholt.
Und weder war Dir etwas klar noch warst Du klar. Du hast Dich anheimgegeben.

Du fehlst mir, Liebster.
Seit vielen Monaten habe ich keines Menschen Haut mehr auf meiner gespürt.
Du fehlst mir, Liebster.
Seit Jahren ist da kein Mensch mehr in meinem Leben, der mir seine Probleme, seine Ängste, seine Fragen sagt. Und dem ich die meinen sagen kann.
Du fehlst mir, Liebster.
Seit einem Jahr weiß ich, dass ich Dir die Welt auch nicht ansatzweise mehr verständlich machen kann – bis zum 16. März 2020 war ich mir da noch unsicher. Dabei warst einst Du es, der mir die Welt teilweise verständlich machte.

Du fehlst mir, Liebster.
Ich bin zehn Jahre weitergelaufen. Habe etliche Menschen verloren, von denen ich ehemals und fälschlich dachte, dass wir uns gegenseitig von Bedeutung wären. Habe etliche neue Erfahrungen gemacht, auf die ich allesamt gern verzichtet hätte. Habe durch all das noch genauer begriffen, wer ich bin, da so als Teil dieser elendigen menschlichen Gattung, und finde es – unsagbar, nein: unsäglich.

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