Witwesker Wunsch

Präambelbild 2019 (Nö klein)
Vor kurzem war mein erstes Konzert in diesem Jahr. {Fast wäre ich nicht hingekommen, weil ich weiterhin keinen Umgang mit jener Erfahrung gefunden habe. Doch ich bin aufgestanden, wie letztens auch wieder die Traurigkeit, und hingefahren.}

Ich saß wegen des Witwenkassenbudgets wie immer auf einem der billigsten Plätze – und wie so oft sind die genial: Dieses Mal, weil ich direkt über dem Orchester saß.
Die Mezzosopranistin sang zwar nach vorn und wandte folglich den anderen und mir da oben unterm Dach den Rücken und etwa 15 Meter Höhenluft zu. Doch sang sie nur zweimal (beide Male allerdings atemberaubend, und das sogar nach oben-rückwärts; Alice Lackner ihr Name). Des Orchesters Spiel indes stieg zwei Stunden lang von nichts gebremst, durch nichts gefiltert zu mir hoch (Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin sein Name, Dirigat Vladimir Jurowski).
Und zwei- oder dreimal hat es sich in mein Zwerchfell gespielt.

Anders, als ich das von Rockkonzerten kenne (die ich unter anderem deswegen in Leben #1 nie gern und extrem selten besucht habe und im Witwesk gar nicht mehr besuche), hielt dieses Spiel mit meinem Zwerchfell nur eine kurze Zeit an. Und anders als ich’s bislang kannte: Ich möchte diese paar Takte nicht missen!

In der Pause habe ich das Witwenkassenbudget gesprengt und mir ein Glas Wein gekauft (+ Trinkgeld, das dem Cateringpersonal offenbar außer witwesken Eisbären nur wenige Andere geben).
Solche Pausen-Gänge sind weiterhin schwer für mich: Die wenigen Frauen, die allein Konzerte besuchen, klemmen sich in der Pause meistens erst aufs Clo, in der Schlange dorthin heimlich taxierend, dann knapp vor die Saaltür und das Programmheft unters Auge; die nicht wenigen Männer, die allein Konzerte besuchen, klemmen sich in der Pause meistens ihr Handy oder die Lustwandelnsluft vors Auge und mitunter, nicht selten, einen taxierenden Blick völlig offen hinein; all die Paare, die üblicherweise Konzerte besuchen, nehmen so, als sei das ganz natürlich, sehr viel Raum ein, da klemmt fast nie was, aber taxieren – das tun die beinah alle, und meistens klemmt sich deren Blick dann doch fest: bei einem, überwiegend einer, von denen, die allein sind.
Dieses Mal hatte ich Lust darauf, mich diesem Spießrutenlauf der Konzertpausen-Verklemmtheiten zu stellen (Schwere Arbeit kann bekanntlich manchmal Lustgefühle auslösen).
Ich sehe immer allen, die mich taxieren, in die Augen. – Das scheint sehr irritierend zu sein.
Mich stimmen diese irritierten Reaktionen, wenn ich in solcher Stimmung bin, immer kaltfroh: „Hab ich dich erwischt! In deinem Dünkel, in deinem Glauben an deine Unsterblichkeit, in deiner selbstüberzeugten Saturiertheit.“
Noch ein jedes hat bisher irgendwann den Blick gesenkt.

Als ich wieder zu Hause war, habe ich dem Ticket-Strauß, der am Kühlschrank hängt, noch eine Konzertkarte hinzugesteckt (man kann in der Pause ja auch einfach auf seinem Platz bleiben): Gleicher Platz (nur auf der anderen Seite des Konzerthauses), gleiches Orchester, gleicher Dirigent wie vor kurzem, kein Gesang, dafür ein Mozart-Klavier wie ja erst kürzlich im Witwesk, und Bruckner, den ichKretin erstmals entdecken darf (ja: die Existenz als Kretin hat sehr schöne Seiten!).

Dass Mahler mich mittlerweile zu begleiten begonnen hat, habe ich heute wieder gemerkt.
– Womit ich langsam zum witwesken Wunsch komme.

Der Lebensmensch ist tot. Und wird tot bleiben. Und das Allein² wird bleiben.
Ich bin – und werde es bis zu meinem Tod bleiben – für fast alle ein Vielflach außerhalb jeglicher Bildplanimetrie: unverständlich bis unkenntlich; das habe ich gerade wieder mehrfach erlebt.
Was also bleibt mir?
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Witwesker Wunsch:
Ich möchte unabhängig sein, frei und meine.

– Ich möchte nicht mehr wünschen, dass Menschen wenigstens ansatzweise erleiden, was wir erlitten haben – gleichgültig, wie dumpf, stumpf, brutal, ichig und dumm diese Menschen sind.
– Ich möchte nicht mehr wünschen, dass Menschen mich verstehen. Es soll mir reichen, dass ich sie oft verstehe.
– Ich möchte nicht mehr wünschen, dass Menschen auf meinem Weg zu meinem Tod wichtig seien. Ich gehe den schon lang allein.
Mit dem Wunsch nach dem nicht-mehr-Wünschen wünsche ich mir also, dass mir alles wieder so vollkommen gleichgültig wird wie direkt nach unserm Tod, und dass ich zum Beispiel das Geld ausgebe für Konzerte, für Freundesessen, für die Reise ans Meer, statt auf diese entsetzlich kleine Witwenkasse zu starren.

Unkenntlich bin ich für die Menschen, fast alle; bestenfalls unverständlich.
Das sollte ich endlich mal ernst nehmen.
Und unabhängig sein, frei und meine.

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