„Zeugnis ablegen bis zum letzten.“ (Victor Klemperer)
Seit über 15 Jahren habe ich nun meinen ersten richtigen Schnupfen. – Nein: keine Klage, eine Feststellung.
Und die Frage: Haben mich die letzten vier, bald fünf Jahre so zermürbt, dass der witweske Eisbär, der ich seit bald 14 Jahren bin, Infekte nicht mehr wegbeißen kann?
Er tat’s all die bald 14 Jahre nach dem Tod (und ein paar davor tat die, die ich da war, das auch). Doch in diesem Frühjahr schon ein erstes leichtes Schnüpperchen. Jetzt also ein echter grippaler Infekt, wie einst. – Nein: keine Klage, nur eine Feststellung.
Was sollte ich auch beklagen? Ich gehe arbeiten, weil es nur mein Schnupfen ist, mein Husten, meine in den oberen Atemwegen kratzigen Nächte.
Warum sollte ich Menschen meine Arbeitsleistung entziehen, Menschen, die darauf angewiesen sind, weil alle gespritzen KollegInnen stets bei Krankheit nach „Vertretung“ schreien und sich Deutsch nicht lernt mit ständigen Pausen wegen LehrerInnen-Ausfalls?
Ach, und ein Letztes zum Thema „Klagen“ noch: Im System der Integrationskurse bin ich ja „selbstständig“ (obwohl dem Bamf und seinen Regelungen vollkommen unterworfen …), also bekomme ich kein Geld, wenn ich nicht im Kurs bin.
– Doch all das ist es nicht!
Die Arbeitsbedingungen sind zwar gottverdammt schlecht (wo auch nicht unterhalb von 50.000 € Einkommen?!). Aber das ist es jetzt nicht, was mich umtreibt.
Mich treibt mein Schnupfen um.
Und die Tatsache, dass ich es völlig normal finde, damit zur Arbeit zu gehen.
Das habe ich damals in Leben Nr. 1 getan (vor mehr als 14 Jahren; und meist hatte ich meinen Schnupfen da im Urlaub).
Und das tu ich jetzt: Mit Schnupfen arbeiten. Weil ich weiß: Ad hoc hängen da jetzt Menschen dran, dass ich komme und unterrichte, also arbeite.
Und weil ich weiß: Ich hab zwar Schnupfen und huste auch gehörig, aber das ist nicht schlimm. Da muss keine Staatsmutti kommen und mich beheitschibumbeitschern (und mir einreden, wie schlecht es mir doch ginge und was für ein armer Tropf ich doch sei …). Ich hab das meiner Mutter untersagt, als ich 9 war.
Kranksein gehört zum Leben. Wenn’s ganz arg kommt, ist eine Krankschreibung völlig okay (für die, die die Möglichkeit haben – haben ja nicht alle). Aber bitte nicht bei Pippifax wie Schnupfen! Nein!
Einst dachte man nicht darüber nach, auf der Arbeit jemanden „anzustecken“! Meine Schnupfen habe ich mir nie in Arbeitskontexten geholt und bin sicher, dass ich bei der Arbeit niemanden mit meinen Schnupfen angesteckt habe.
Wär’ schön, wenn wir langsam mal wieder zum WISSEN von „vor Corona“ zurückkämen. (Was wir währendessen erfuhren, war vorzivilisatorisches Schamanentum im Digitalzeitalter, aber kein Wissen, das sich zu erlernen lohnen würde!) Doch das ist ein vergeblicher Wunsch.
Unser – der „Alten“ – Wissen von „vor Corona“ ist in der Corona-Zeit krepiert. Jetzt sind nur noch Ich-ich-ich(und meinsmeinsmeins, z.B. die Familie), Unsicherheitspanik und gnadenlose Unbildung.
Wie die Unbildung über Schnupfen. Jo mei: Vorgestern und gestern war echt triefig und juckig (ohman, wenn Nase & Augen zugleich jucken, da möcht man nur noch heulen – und tut’s!). Heute, am Tag 7, merke ich: Er geht. Ganz wie immer an Tag 6 oder 7. Oder auch 8.
– Danke, dass du da warst, lieber Schnupfen! Hast mir gezeigt: Ich lebe noch: Mein Körper setzt sich mit Viren ins Benehmen, wie das lebende Organismen seit Jahrmillionen tun. Hast mir meine Verletzlichkeit gezeigt und mich kurz daran erinnert, dass ich sterben werde.
Danke, dass du da warst, lieber Schnupfen!
Und dass niemand arbeiten sollte, wenn er krank ist – himmelnochmal: ja!
Aber nicht, um die hypochondrischen Ängste zu schüren, die die Helikopter-Eltern wie Taurusraketen im narzisstisch auferzogenen Kinde versenkt haben, auf dass sie dort selbsttätig dauerfeuern. Und erst recht nicht, um den KapitalistInnen zu dienen, die derzeit dabei sind, die Menschheit in ihren ExponentInnen, den Menschen, zu vernichten.
Sondern um der Humanität willen. Um der Humanität willen sollte kein Mensch arbeiten müssen, der sich krank fühlt.
So einfach könnte das mit dem Schnupfen sein.