Das kann ich doch nicht tun!

„Zeugnis-Ablegen bis zum letzten.“ (Victor Klemperer)

Mehrere Jahre habe ich jetzt diesen Gedanken in mir getragen: Das kann ich doch nicht tun!
Seit einem Jahr ganz massiv: Das kann ich doch nicht tun! – In diesen Zeiten der menschheitlichen Selbstvernichtungsduselei und der ihr zugehörigen, immer raumgreifenderen Rebarbarisierung doch nicht!
Da lohnt es sich wirklich nicht mehr!

Vorher wollte ich es nicht tun, mehr noch: Es war einfach undenkbar.

Jetzt habe ich es getan.
Nachdem ich trotz allen regelmäßigen Drehen und Wendens Bekanntschaft mit den Federn in unserer Matratze gemacht hatte.
Jetzt habe ich eine neue Matratze für unser Bett gekauft. Das heißt, dass die alte, die wir teilten, der Lebensmensch und ich, bald fort und an ihrer Stelle eine neue vorhanden sein wird, auf der der Lebensmensch nie liegt.

Das ist immer noch herb, obwohl ich bereits am Dienstag den Kauf tätigte. Matratzen sind etwas Intimes. Unsere hat unser beider Körpersäfte höchster Freunden, tiefster Schmerzen und schwärzester Verzweiflung aufgenommen. Und sie sind aus dem Schonbezug so wenig komplett ausgewaschen worden wie die Kaffeeränder, die man immer noch schattenhaft sieht.
Deshalb ging es jahrelang nicht. Auch nur der Gedanke an eine neue Matratze. Trotz aller Kuhlen und manchem Knoten zwischen den Schulterblättern.

Außerdem:
Gut 500 Euro. Jetzt! Da die menschliche Gattung – jedenfalls ihre „Eliten“ des „Westens“ – unter langsam konvulsivisch werdenden Begeisterungstänzen gen selbstverschuldetem Untergang strebt.
Ich wohne da, im „Westen“ – was soll ich jetzt noch mit einer neuen Matratze? Die wird, wenn diese seltsamen „Westeliten“ so weitermachen können, bald unter der Atombombe zu Dampf werden.
{Gegenfrage: Ist es da nicht erst recht an der Zeit, die 500 Euro – und wieder war ich eine Rabatt-Sterntaler, ähnlich wie schon bei der Brille – sinnloses Geld in etwas spürbar Sinnvolles einzutauschen und meinem Körper ein geruhsames Nachtlager zu gönnen? Und sollte ich nicht allmählich all mein sinnloses Geld in etwas für die Menschen (die Menschen, nicht diese schon halbneue Spezies „Westeliten“) Sinnvolles eintauschen und mein Sterntaler-Sein vom Kopf auf die Füße stellen? – Drehe und wende ich diesen Gedanken, merke ich, wie schwer es mir immer noch fällt, für realistisch zu halten, was doch so verdammt real ist, denn ich lege nach einigen Drehungen und Wendungen den Gedanken zurück, wie ich nun jahrelang die Matratze zurück ins Bett gelegt habe.
Aber jetzt habe ich eine neue Matratze gekauft.}

Der Lebensmensch wollte nach der 2. Diagnose gar nichts mehr für sich kaufen, noch nicht einmal Socken.
Mich hat das zutiefst verletzt (mittlerweile frage ich mich, ob ich da nicht einfach nur die Schnitte spürte, die er sich selbst damit zugefügt hat, weil er sich mit ihnen vom Leben abschnitt; vermutlich liegt die Wahrheit irgendwo zwischen ihm und mir).
Mich hat das aber vor allem bodenlos ohnmächtig gemacht.
Da stehen er und du auf einem fremden Kreisstadt-Markt an einem sonnigen Herbsttag inmitten von Spezereien, Obst-, Käse- und Wurstständen, Eisenwarenauslagen, Kittelschürzen, Kurzwaren, Kochgeschirr und eben Bergen von Socken und du weißt: Fast alle Socken von ihm im Gepäck für den Klinikaufenthalt sind nunmehr fadenscheinig, wenn nicht schon löchrig. Und er? Er geht an all den Socken vorbei, an allem Kochgeschirr, allen Kurzwaren, Kittelschürzen, allen Schrauben, Nägeln, Würsten, Käsen, Datteln, Äpfeln, Trauben und Gewürzen, ohne ein Auge dafür. Als du ihm das Fünferpack-Socken vor die Augen hälst, sagt er: „Das lohnt sich nicht mehr, aber kauf dir nur, was du brauchst“, und geht weiter. Weder hat er die Socken noch dich angesehen. Überhaupt: Du weißt nicht, wohin er blickt.

Mich hat das damals da so ohnmächtig gemacht, dass ich mir vornahm, es anders zu machen. Und dabei möchte ich gern bleiben bzw. nach einem Jahr wieder dahin zurückfinden (obwohl ich nur noch mir selbst gegenüber verantwortlich bin und glücklicherweise niemanden ohnmächtig machen kann): Mir das zu ermöglichen, was „geht“. Mental. Und da geht jetzt der Abschied von unserer Matratze. Und finanziell. Und da geht jetzt der Neuerwerb einer Matratze.
Und wenn ich deren Lieferung in ein paar Wochen nicht mehr erleben sollte (sterben kann man bekanntlich immer, da braucht’s keinen 3. Weltkrieg, der ein atomarer sein wird), dann tut das nichts zur Sache:
Was dieser Matratzenkauf da nun in Drehung und Wendung versetzt hat in mir, war’s wert!

~ ~ ~
Unter anderem gehört dazu eine weitere Entstofflichung.
Ich habe ja kaum „Stoffliches“ vom Lebensmenschen behalten. Im Bad hängt noch sein seither etwa 10 Mal gewaschener Bademantel. Es gibt eine Metallkiste mit zwei Kleidungsstücken und einem Handtuch, auf dem ist er gestorben, und ich habe es verbaselt, nämlich durch eigenes Verschulden dafür gesorgt, dass es gewaschen wurde. Die beiden Fotos von ihm stehen hier weiterhin mit dem Rücken zur Sicht, seine Bücher – diejenigen, die ich behielt – im Regal, seine fünf Bilder hängen an ihrem Platz.
Die mit all den Lebenssäften getränkte Matratze, die bislang der hinsichtlich physikalischer Größe und Gewicht bedeutendste Posten dieses Materiellen war, nun aufzugeben, fühlt sich tatsächlich nach „Entstofflichung“ an: nach einem leicht und feinsinnig Werden, das so maschentausendaberweit sein könnte, durchaus auch einen Leichtsinn zu bergen*.

Lipschitz!

*Dieser Eintrag bezeugt’s vielleicht.
Solchermaßen Witwesk-Privates in diesen Tagen der Rebarbarisierung „des Westens“ hier aufzuschreiben, fällt mir immer schwerer, denn ich sage mir: „Das kann ich doch nicht tun! Nicht in diesen Zeiten!“
Aber heute tat ich es. Und vorgestern kaufte ich eine neue Matratze.

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