Jahresendzeit – Zeit der Bilanzen

  • Stundenlohn, netto (als selbstständige, zwangsrentenversicherte Honorarkraft in vom Bamf bezahlten sogenannten Integrationskursen – Mindestvoraussetzung zur Erlangung der Arbeitserlaubnis: akademisches Studium):
    realiter etwa 9 Euro, laut Rechnungen knapp 20 Euro (weil wie immer neben Urlaubs- und Krankenzeiten auch keine keine Vor- und Nachbereitungszeiten und in diesem Jahr auch nicht der Dokumentationswahnsinn der Corona-online-Unterrichtsmonate vom Bamf bezahlt werden).
  • Lektüren:
    womöglich knapp 10 „Ganztexte“ in diesem Jahr – hirnvernichtend wenig also (und die unzählbare Menge an Zeitungsartikeln, Buchrezensionen und sonstigen Hypertexten macht da nicht etwa irgendetwas besser).
  • Trauer:
    ein ebenso schwer fassliches Phänomen wie vor zehn Jahren, als sie in Reinform in mein Leben trat (die Trauern zuvor waren lebenszyklisch korrekt gekommen – die Großeltern, der Vater – und entsprechend abgefedert wieder gegangen); mittendrin ich, mitten im Tod der Lebensmensch. Seit einer Dekade also Sein statt Werden.
  • Perspektiven:
    Ich weiß jetzt, warum ich zu diesem Thema promoviert wurde vor 20 Jahren (das hatte ich mir ja selbst gesucht), denn es einmal wenigstens versuchshalber durchdrungen zu haben, ist bis heute hilfreich. Und dass meine Augen, seitdem ich denken kann, einen brillenbedingenden Astigmatismus aufweisen, erscheint mir auch passend: angeborene Zentralpunktlosigkeit, also keine Perspektive – jetzt ist das in alle Lebensdimensionen eingekehrt.

Eine, nein: die Freundin merkte kürzlich an, dass man nur selbst (s)eine Perspektive entwerfen und blah und blubb – ja. Ja sicher, das ist völlig richtig: das kann man nur selbst, egal ob als Konstruktionsskizze für ein Fresko, ein Leinwandbild oder als temporären Lebensplan.
Man sucht den Fluchtpunkt immer selbst aus. Bis auf den Tod. Der ist der ultimative Fluchtpunkt. Der einzige, den wir Lebewesen tatsächlich erreichen – und das auch nur, weil er unseren Lebensweg und unsere Fluchtlinien zu sich hin zusammenschnurren lässt.

Und das freut eine wie mich, die kein Interesse mehr daran hat, um irgendwelche ohnehin nie erreichbaren selbstgesetzten Fluchtpunkte zu kämpfen (denn ja: so ist das mit der perspektivischen Bildkonstruktion!; alle Fluchtpunkte ist die uns unvorstellbare Null).
Ich bin kein von Fluchtlinien flankierter Unterwegsmensch mehr. Ich bin ein witwesker Eisbär. punto. Und alles hier ist gleichermaßen eisweiß. Keine Linien. Keine Oberfläche. Keine Tiefe. Einfach weiß.

Und das ist auch ein Ergebnis der Gattungsentwicklung unter „Corona“: Dass ich sehen musste und noch immer dabei zusehen muss, wie grausam die Gattung „Mensch“ bereit ist, völlig sinnlos den Tod zu verleugnen und dabei über unzählige Leichen zu gehen, hat mir als einstiger Mensch den Rest gegeben.
Jetzt ist es hier einfach weiß.

Sieht gut aus.

PS: Klaus Heinrich ist gestorben

Am 23.11.2020, mit 93 Jahren. Ich habe ihn nie erlebt, nie eine seiner „Vorlesung“ genannten peripatetischen Wanderungen besucht. Persönlich bedauere ich das sehr. Denn für mich ist er der Klügste, den ich je gelesen (und übrigens auch per Aufzeichnung im Radio gehört) habe (und ich hätte ihn grad noch so erleben können, wenn an meiner Uni nicht so ein Widerwille gegen die Psychoanalyse geherrscht hätte, und wenn ich nicht so unbedarft gewesen wär’).
Doch offensichtlich hat auch er nichts von dem, was ihn beseelt hat, „übersetzen“ können: Die akademische Welt ist seit etwa zwanzig, dreißig Jahren tot. Und mit ihr alle einstigen Trabanten. Auch die Psychoanalyse. – Weit und breit keine „Balance“ mehr.
So ist das mit der Gattung „Mensch“. Ihr ist die Vernichtung zutiefst innerlich.

Ein paar Zahlen (immer gut ohne Worte)

Die Kohortensterbetafel des Statistischen Bundesamtes, abgerufen heute, am 25.11.2020 (https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?operation=previous&levelindex=1&step=1&titel=Ergebnis&levelid=1606344455180&acceptscookies=false#abreadcrumb),
besagt, dass Menschen, die 1963 geboren wurden (wie der Lebensmensch), zwischen 76,5 (Männer) und 83,5 (Frauen) Jahren alt werden werden.
Sie besagt für Menschen, die 1940 geboren worden sind, dass sie zwischen 68,8 (Männer) und 76,7 (Frauen) Jahren alt geworden sind (und mithin nun im Durchschnitt schon ein paar Jahre tot).

Dass diese Menschen statistisch mindestens fast 22 Jahre älter werden, als der Lebensmensch es geworden ist, „verdanken“ sie solch jungen Toten wie ihm. (Statistik ist kompliziert.)
Meine mir persönlich bekannten SeniorInnen – und bis auf einen leben sie noch allesamt – sind nunmehr alle 35-40 Jahre älter, als er es geworden ist, und damit sogenannte Hochbetagte.

Heute las ich in einem von mir selten zur Kenntnis genommenen Presse-Erzeugnis (der Weg dorthin führte über einen link), nämlich in der BILD-Zeitung, ein paar Zahlen zu den Covid19-Toten, die aus den RKI-Todesmeldungen stammen.
Mich haben sie nicht überrascht. Ich lese seit neun Monaten nichts anderes, wenn es um die „Pandemie“-Toten geht (nur muss ich normalerweise richtige Anstrengungen betreiben, mühsam recherchieren und Quellen kombinieren, um an diese Zahlen zu kommen, denn die liest man sonst allenfalls in Fachzeitschriften und eben à la in der Natur der Sache begründbaren Salami-Taktik in den Statistiken des RKI).
Von den zwischen dem 17. und dem 24. November 2020 in der BRD an/mit Covid19 Verstorbenen waren 68 % über 80 Jahre alt, weitere 20 % waren zwischen 70 und 79 Jahren.
Vier – in Ziffern: 4 – % waren unter 60 Jahren alt. Und 0,52 % waren jünger als 40 Jahre.
(https://www.bild.de/politik/inland/politik-inland/aktuelle-corona-zahlen-ausgewertet-nur-vier-prozent-der-verstorbenen-waren-unter-74126920.bild.html, abgerufen 25.11.2020)

Wenn ich mir die Sterbetafeln des Statistischen Bundesamtes ansehe, denen zufolge zum Beispiel diejenigen Menschen, die hierzulande 1940 geboren worden sind, im Schnitt mit knapp 70 (Männer) und knapp 77 (Frauen) Jahren sterben, und wenn ich mir die Todesalter der zum Beispiel letzte Woche an/mit Covid19-Verstorbenen ansehe (68% über 80), dann frage mich mich, wie viele junge Menschen eigentlich schon immer sterben mussten und weiterhin sterben müssen – natürlich nur rein statistisch betrachtet –, damit wir es gesamtgesellschaftlich auf so viele über 80-Jährige bringen können, wie sie jetzt leben.

Und ich frage mich, warum eigentlich niemand mehr einfach nur dankbar ist – dafür, so viel älter zu werden als der Durchschnitt; ich frage mich, warum stattdessen alle es als selbstverständlich betrachten, so viel älter zu sein und noch viel älter zu werden; ich frage mich, warum die Menschen ewig vorhanden sein wollen in ihrer sinnlosen Existenz, ihrer tumorartigen Welt, die als finale Raumforderung alles andere Weltgewebe von Beginn an zersetzt.
{Und nun ist auch noch der einzige Raum guten menschlichen Versuchens, Scheiterns und Gelingens zugesperrt worden oder ins private Kabinett zurückverwiesen, um dort – endlich, so frohlocken die Finanzkapitalbeweger und –verweser gestrafften Lids – zugrundezugehen. Keine Orchesterprobe findet mehr statt, kein Museum mehr ist betretbar, Galerien nur für den, der kaufen will statt zu sehen, und der Buchmarkt lebt auch nur mit aller Kultur, die jetzt geschleift wird.}

Vor zehn Jahren sind wir auch irgendwann eingeschlafen

in dieser Nacht in diesem völlig neuen Krankenhaus (seit etlichen Wochen wieder einmal Krankenhaus), das wir am Nachmittag des 11. November bezogen hatten.
Es ist jetzt zwanzig nach zwei in dieser Nacht.

Knapp 14 Stunden später werden wir tot gewesen sein.
Das Sterben war damals für uns beide unfassbar. Und das ist es bis heute, wenn auch nur noch für mich.

Und ich bin nicht mehr ich. Eine andere Corinna Laude ist seither vorhanden, eine blasse, eine manchmal bösartige, eine ohne Boden, Wände und Dach, denn alles Bauen, Errichten, Konstruieren hat sich damals als Illusion erwiesen.
Wo keine Wand, da kein Fenster mehr. Wo kein Fenster mehr, da keine Perspektive.
Nur noch das offene blaue Nichts.

In diesen zehn Jahren ist das immer offener und bläulicher geworden.
Wenigstens das.

Erst nahmen sie den Bahnhof Zoo, nun nahmen sie TXL – oder: Zivilisationsmarker


Der Bahnhof Zoo, der Flughafen Tegel: Beide waren – wie sich jetzt, da es sie nicht mehr gibt, herausstellt – für mich Aufklärungsindizes, waren Zivilisationsmarker, und sie standen auf einem hohem Niveau.

Und ich hatte das Privileg, mit beiden aufzuwachsen, mit dem Bahnhof Zoo und dem TXL. Und mit Schulunterricht, in dem die Lehrerinnen und Lehrer uns damit ‚triezten‘ (so empfanden wir das damals, aber auch damals schon ahnungsvoll offen für die Triezerei [denn: Wie lustvoll war unser Diskutieren!] – heute bin ich vollends froh drum, kopfschüttelnd ob all der Vergeblichkeit), den argumentativen Standpunkt des Andersdenkenden einzunehmen: dessen Argumente zu suchen und in dessen Haut, dessen Geschichte zu schlüpfen, und seinen Standpunkt erst danach argumentativ zu widerlegen (und das hat funktioniert).
Wir haben erbittert diskutiert.
Oft gab es keinen Kompromiss.
Aber wir haben argumentiert.
Und dabei gelernt, dass die Menschenwelt schwierig bis unmöglich ist, aber nicht auf Menschenverachtung gründen darf.

Der Fernbahnhof Zoo und der Flughafen TXL sind für mich Symbole jener Zeit.

Und sie sind ganz persönliche Glücksmarker:
Am Zoo kam der Lebenmensch so oft an und unzählige Küsse (und am Zoo kam ich so oft an und fühlte mich mit jeder Stufe hinab gen U-Bahn alleiniger auf meinem Weg aus der Pfalz oder am Schluss von Frankfurt aus in meine Wohnstatt). Die Schließung vom Bahnhof Zoo haben wir noch ganz gesund erlebt – und was waren wir da froh, keine Fernbeziehung mehr leben zu müssen. Und doch war auch da schon ein „First they take“-Gefühl.

Die Schließung von Tegel, meinem persönlichen Weg auf die Welt – die erlebe ich jetzt allein (aber ich kann mich erinnern, dass wir zu zweit noch dachten, letztmalig von dort in die Krebsklinik zu fliegen; doch meist fuhren wir mit dem Zug dahin).
Nach dem Tod bin ich noch zwei-, dreimal in den Süden der Republik geflogen, häufiger mit dem Zug gefahren, vom „Hauptbahnhof“ aus, dieser mehrgeschossigen Betongurke mit nicer-dicer-Glaswürfeldach.
Irgendwann – lange vor der aktuellen Massen-Hysterie – habe ich das Reisen aus persönlichen Gründen eingestellt. Und doch ist jetzt, da nun auch Tegel geschlossen worden ist, wieder das „First they take“-Gefühl da.
Und das geht auf diese Weise weiter: And than they take the rest of humanity.

Da hilft auch der Wahl-Sieg eines US-demokratischen Präsidentschaftskandidaten nichts.

Die Menschenwelt ist in den letzten zwanzig Jahren eine mir völlig fremde geworden. Sie hat mit dem, was ich als ihren Kern, was ich als eine humane, eine zivilisierte, eine aufgeklärte Menschenwelt kennengelernt habe, nichts mehr zu tun.
Ich könnte dem Lebensmenschen auch nicht mehr ansatzweise erklären, wie die Menschenwelt jetzt, 10 Jahre nach seinem Tod, beschaffen ist.
Und es gibt seit vielen Jahrzehnten kein zeitgenössisches Buch, keine zeitgenössische Musik, keine aktuellen Gedichte, kein neues Bild mehr, die so etwas wie Zuversicht in des Menschen Menschlichkeit – also in sein von sich persönlich Abstandnehmen – eröffnen.

Wenn ich jetzt nicht sterbe, werde ich also als Zynikerin sterben.

{ Ich sehe Paare. Die in etwa, paar Jahre plus/minus, so alt sind wie ich, wie wir es wären. Die halten jetzt durch. Ich bin allein. Ich hab so gekämpft. So.
So.
Und ich erteile mir immer noch nicht die Erlaubnis. Welcher Teufel treibt mich?}

Dass wir verrückt geworden sind, ist völlig logisch

nach10 Jahren: Zimt!

Vorgestern Abend habe ich seit langem wieder einmal die Mails gelesen, die ich in den etwa sechs letzten Wochen vor dem Tod verschickt habe; wie schon seit einem Jahr handelte es sich dabei fast ausschließlich um Status-Bulletins, die an die damals noch sogefühlten Freunde gingen.

Es ist ein paar Jahre her, dass ich sie zuletzt las, und mit diesem Abstand ist mir noch deutlicher geworden, was ich länger schon weiß: Dass wir damals verrückt wurden, ist völlig logisch.

Für das, was damals passierte (auch, und immer wieder und wieder, durch Irrsinnsagieren von ÄrztInnen), fände ich heute keine Worte mehr. Damals mitten im Erleben all dessen fanden sich aber Worte ein (ja, die kamen zu mir. Ich hatte keine Zeit, nach ihnen zu suchen).
Und auch an dem zum Teil fassungslosen Gestammel, das als Antwort auf diese Mails zurückkam, sehe ich: Was damals passierte – was damals uns passierte, dem Lebensmenschen und mir –, das war so, dass es nicht erstaunlich ist, dass wir darüber verrückt geworden sind.

Alle „Krebsverläufe“, die ich persönlich erlebt habe oder denen ich als Krebsforenzeugin beiwohnte oder von denen ich gelesen oder gehört habe, waren und sind vollkommen anders. Da war und ist viel mehr Kontinuität, viel mehr Lehrbuchverlauf (viel mehr medizinische Betreuung auch und viel mehr Schmerzbehandlung). Und ich weiß, dass jetzt wieder manche, die hier lesen, denken: „Ach, ist mal wieder die Narzisstin u./o. Dramaqueen C. Laude unterwegs …“. Und wie immer ist mir das ziemlich egal.

Gestern habe ich einem Menschen, den ich seit bald zehn Jahren kenne, ein wenig von den letzten etwa sechs Wochen, die da vor zehn Jahren waren, erzählt. Nicht zum ersten Mal. Erstmals aber sind ein paar der Fakten bei der Person angekommen (offenbar sind sie so unvorstellbar & grotesk, dass man sie auf Teufel komm raus abwehren muss), und es ist wohl auch ein wenig dessen, wie sich das damals angefühlt hat für uns, bei dieser Person angekommen.

Das aber „hilft“ nicht.
Wie immer: Mir „hilft“ erzählen nicht. Mir hilft „mit-teilen“ nicht. (Tschuldigung, aber auch da strafe ich alle probaten Psychotherapie-Theorien Lügen.)
Ich habe einen Lyrik-Band und einen Roman hindurch davon gesprochen. – Es hat mir nicht „geholfen“. (Und das hätte es auch nicht getan, wenn die Lyrik oder der Roman einen Verlag gefunden hätten.)

Es gibt keine „Hilfe“ [für solche wie mich].
Es gibt nur das Augenklar (wieder einmal thx @ Gryphius!): Sehen, was ist. An Aktionen und Reaktionen. An Gefühlen, fremden (jaja: die kann man oft sehen!) und eigenen. Und auch im eigenen Kopf: sehen, was da ist.

Augenklar auf die letzten sechs Wochen vor zehn Jahren geguckt:
Es ist völlig normal, dass wir damals verrückt geworden sind.

Und ich habe mich vorgestern bei und nach der Lektüre jener Mails aus den letzten etwa sechs Wochen auch gefragt, ob es irgendwann einen anderen Weg gegeben hätte, ob es also für uns an irgendeinem Punkt möglich gewesen wäre, aus diesem kompletten Irrsinn rauszukommen (und nein: das heißt nicht einzig „überleben“, das heißt auch „besser sterben“, wie so viele es tun).
– Augenklar draufgeguckt: Nein. Wir haben keinen Ausgang übersehen. Wir waren wir. Wir konnten uns nicht entkommen.

Augenklar sein.
Sich nichts vormachen.
Sich nicht in etwas flüchten, das ohnehin wie alles vergeht
& sich nicht auf etwas berufen, das ohnehin nicht zu fassen ist.

Augenklar sein und den Geschmack von August-Zimt auf der Zunge haben – merci (uff pälzisch), toter Liebster, merci

Leben im Witwesk wird (womöglich) zu: Witwesk leben

November also, wieder einmal. Der elf/zehnte im Witwesk.
Wie immer rutschen Momente aus dem Sterben ins Jetzt: immer Bilder (meist nur ein Schnipsel, wie von einem zerfetzten Foto), oft auch ein Ton (interessanterweise stets ohne Geräusch), manchmal ein Gefühl (doch die sind von allem am schlechtesten zu fassen).

Ich habe während drei, vier Jahren nach dem Tod diese Momente und einige andere aufzuschreiben versucht. Irgendwann wiederholten sie sich, aber ich fand keine neuen Wörter mehr. Da habe ich damit aufgehört.
Die Wörter, die ich gefunden habe, halte ich nach wie vor für gültig als Moment-Aufnahmen. Sie stehen in der „Nullsamkeit“. Manch verwackelte sind – obwohl ich damals bei der Auswahl wirklich lange gesiebt habe – hineingeraten, denn wie sie zum Dekor zerlaufen, bildet auch etwas ab, das war. Ein paar sind sehr scharf und zeigen genau den exakten Bildausschnitt.

Und weil ich auch als witwesker Eisbär anfangs noch dachte, ohne kohärente Geschichte nicht leben zu können, ließ ich dann einen Anderen in mir aus diesen und etlichen anderen Momenten heraus eine Geschichte mit Anfang und Mitte und Ende machen. Sie steht im „WEG SEHEN“.
Dort steht kein Wort zu viel, keins zu wenig und kein verwackeltes, denn sie gehen nicht auf Fotofetzen zurück und diese Worte erzählt in mir ein Anderer aus mir heraus.
Doch auch dessen Geschichte ist nicht kohärent.

Mittlerweile bin ich angekommen im Witwesk: in Wittibs kafkaeskem wild, wild west. Da gibt es keinerlei kohärente Geschichten, keinerlei Synästhesien und auch keine Wortunerschöpflichkeit. Was es da gibt, steht zum Teil hier.
~

Gestern gab es dort die letzte Oper. Denn dank Ordre de Mutti müssen ab heute erneut alle Kulturspielstätten schließen. Für den ganzen Todesmonat November. (Dabei war ich so froh, an seinem Ende erstmals eine Totenmesse, die Messa da Requiem von Verdi, lebendig gespielt hören zu dürfen, sofern ich solange leben würde.)
Die letzte Oper gestern schloss fulminant (und so passend) mit der Zugabe aus dem dritten Akt, der Schluss-Fuge Tutto nel mondo è burla, l’uom è nato burlone. („Alles auf der Welt/Die ganze Welt ist ein Scherz, der Mensch wird als Narr geboren.“)
Und ich bin erneut neugierig geworden auf einen ungeheuerlichen, blutjungen Sopran, den ich schon ein-, zweimal gehört habe und vielleicht nochmal oder niemehr: Meechot Marrero.

Apropos Neugier: Ich habe bereits vor ein paar Tagen beschlossen, endlich im Witwesk anzukommen, denn ich bin nun seit fast zehn Jahren darin, und sich immer noch dagegen zu wehren, nur weil damals mein Sterben vergeblich war, ist mittlerweile lächerlich: Ich bin mit meinem Tod damals gescheitert, und noch nie hat im Falle eines Scheiterns ein Grund gezählt: Versager bleibt Versager (auch „Oxaliplatinversager“, thx@ Herrn Prof. Dr. Piso, Regensburg: Zu lernen, so einer zu sein, hat dem Lebensmenschen damals bei seinem Beschluss vermutlich ungemein geholfen).

Also habe ich beschlossen: Wenn der Tod zum 11. Mal über mich gekommen sein wird und ich mich – ebenso ungefragt – danach zum 11. Mal wieder in die Welt gestellt haben sollte, dann werde ich nicht mehr nur im Witwesk sein, nö,
dann werde ich witwesk leben.

{Und das mache ich doch schon längst, unbeachteter- nein: uneingestandenermaßen.
Letzte Beispiele: Die Sofa-Reparatur; die Gefühle bei der Lektüre jenes nicht mir geschenkten, nun aber auf mich gekommenen Buches; die Opern und Konzerte. Was ich seither spüre, ist, wie Lebenslust & Todesmut in mir gedeihen. Und ich erfreue mich an beidem gleichermaßen.}

Ticktackticktack, so wie vor zehn Jahren, so wie immer: Die Zeit vergeht.


Die läuft auch jetzt auf das Ende zu wie immer. Und ich sehe – ticktackticktack – immer wieder ein Bild von damals: damals, also kurz vor dem Ende.

Ich habe ein Buch zu Ende gelesen. Eins, das mir nicht gehört. Der Lebensmensch hat es im ersten Jahr unseres Bundes seiner früheren Partnerin zum Geburtstag geschenkt.
Die hat es ihm im Todesjahr zurückgeschenkt.
Dann war es viele Jahre lang verschollen, bis es vor zwei, drei Jahren wieder auftauchte in einem Haus in der Pfalz. Und von dort an mich geriet.
Nun habe ich es viele Wochen lang gelesen, jetzt zu Ende.
Ticktackticktack.

Es erzählt eine der größten Liebesgeschichten, und ganz sicher mit die verrückteste überhaupt. Um dieser Geschichte willen liebe ich es. Es erzählt von dem, was ich selbst fühlen und in den Augen des Lebensmenschen sehen durfte, wenn er mich ansah, manchmal.

Es gehört mir nicht.
Er hat es nicht mir geschenkt, sondern seiner 2. oder 2½sten Partnerin.
Doch es ist nun auf seltsamen Umwegen zu mir gekommen.

Und ich habe es gelesen: Habe eine der wundervollsten Lieben gelesen, die die Literatur erzählt.
Und liebe den Lebensmenschen, liebe den toten Lebensmenschen. Weiß nicht, warum er gestorben ist, da vor zehn Jahren, weiß es nicht.
Und weiß wieder einmal: Ich habe nicht gereicht. Meine Liebe hat nicht gereicht.
Nicht mir hat er diese Geschichte geschenkt.
Er hat sie im ersten Jahr unseres Bundes einem Menschen geschenkt, der ihn zwei Jahre zuvor verlassen hatte, weil ein anderer Mann für diesen Menschen potenter war; hat sie einem Menschen geschenkt, der ganz am Schluss – nach etlichen Jahren – wenige Tage vor dem Tod des Lebensmenschen zu Besuch kam und den Tod im Handgepäck hatte.

Nicht mir hat er dieses Buch, diese ungeheuerlich große Liebesgeschichte geschenkt. Sondern diesem Menschen, seiner vorigen Partnerin.

Nun, da das Buch auf seltsamen Wegen zu mir gekommen ist, habe ich es gelesen. Ich habe lange daran gelesen. Und wieder gelernt, dass ich nicht reiche, nie gereicht habe, dass meine Liebe nicht gereicht hat.

Ich liebe den Lebensmenschen. Immer noch. – Jetzt darf ich das gefahrlos. Damals habe ich das nicht gedurft, weil ich nicht reiche.
Aber ich habe es getan.
(Wenn ich dem Lebensmenschen – wie jener Mensch, dem er das Buch geschenkt hat und der kurz vor seinem Tod mit dem Tod im Handgepäck zu Besuch kam – wenigstens beim Sterben hätte behilflich sein können … Aber auch dazu habe ich nicht gereicht, weil ich nicht reiche.)

~ ~ ~
Jener Mensch, die vorige Partnerin, hat mich ein paar Tage nach dem Tod durch eine Verwandte gebeten, das Buch bitte zurückzusenden. Ich habe – ein paar Tage nach dem Tod in unserem gottverdammten Gepäck und sogar in dieser gottverdammten Ferienwohnung – einen gottverdammten Tag lang nach diesem Buch gesucht. Ich habe es nicht gefunden. Es ist erst sechs, sieben oder acht Jahre später zu mir gekommen.
Dieser Mensch hat den Tod im Handgepäck. Schon immer. Das reicht.

Der Lebensmensch hat diesem Menschen das Buch im ersten Jahr unseres Bundes geschenkt. Nicht mir.
Jetzt ist das Buch zu mir gekommen. Ich habe es gelesen. Ich habe die größte Liebesgeschichte meines Lektürelebens gelesen.
Ich bin das, was ihr „todtraurig“ nennt: Nicht mir hat der Lebensmensch dieses Buch geschenkt.
Ich bin tiefglücklich, weil ich dieses Buch nun lesen konnte, das Worte hat für eine ganz große Liebe, und weil es mir damit sagt, dass die Liebe, die ich erlebt habe (was immer wieder von Manchem angezweifelt wird), keine Einbildung ist: kein Phantasma und kein Narzissmus – nö: Sowas gibt’s dann und wann tatsächlich, und sogar inmitten allen Ungenügens.

Dieses Buch, das mir nicht gehört, steht nun in unserem Bücherregal zwischen unseren Büchern, meinen und denen des Lebensmenschen, denn jene Frau hat es ihm zurückgeschenkt.
Danach, nach dem Tod aber wollte sie es wiederhaben. Dafür wäre sie besser ohne den Tod im Handgepäck zu Besuch gekommen.
Sie hätte – im Gegensatz zu mir – vermutlich gereicht.

Wegen der wieder einmal aktuellen Corona-Politik der BRD-Medikokratie – oder: MedizinerInnen on Bundesverdienstkreuz und Dope, mithin im Normbereich ihrer Hybris

– und da ich, wie alles, was lebt, mitten auf dem Weg in den Tod bin, frage ich:

Wollen wir das Leben der Kinder und der jungen Menschen wirklich wieder einmal opfern – jetzt, damit wir und unsere Alten noch ein halbes Jahr, noch zwei Jahre, gar noch fünf oder zwanzig leben dürfen – die Alten womöglich ganz ohne sich selbst oder ständig wirbelbruchstürzend oder inmitten von beidem, also ohne Selbst und mit gebrochenen Knochen?

Wollen wir dafür das Leben der Kinder und der jungen Menschen wieder einmal opfern?
Für uns 50jährige, 60jährige und für die richtig Alten – für uns alle, die wir alle doch schon ein Leben gehabt haben, im Gegensatz zu den Kindern und den jungen Menschen. Wollen wir das?

Ich höre gerade etwas für mich ganz Altes:
Es geht in diesem Lied um Krieg (den sogenannten 1. Weltkrieg) und Soldaten, und es heißt dort:
„Ja, auch dich haben sie schon genauso belogen, so, wie sie es mit uns heute immer noch tun. Und du hast ihnen alles gegeben: Deine Kraft, Deine Jugend, Dein Leben.“
(Hannes Wader: „Es ist an der Zeit“., dt. Nachdichtung von Eric Bogles: „No man’s land“ [auch: „The Green Fields of France“ oder „Willie McBride“].)

~ ~ ~

Ich frage mich seit Beginn dieser sogenannten Pandemie, was die Triebfeder der Reaktion unserer Gattung (Homo sapiens) darauf ist.
Spezieller: Ich frage mich, woher diese Panik stammt (also wie sie sich erklären lässt), die von den sogenannten ExpertInnen geschürt wird und die alles bestimmt, und zwar von Beginn an. (Denn sein wir doch einmal ehrlich: „Nicht-ExpertInnen“ durften auf „die Bedrohung“ nie eine persönliche Meinung entwickeln: Es gab und gibt im Zweifelsfall für die, also für uns alle Nicht-ExpertInnen, nur eins: Zwangsbeatmung. Notfalls – und abertausendfach genauso betrieben – bis zum Tod …)
Woher also stammt diese exorbitante Panik-Reaktion auf das Virus „SarsCoV2“, das viele, viele Menschenlebenlichtjahre davon entfernt ist, so zu wirken wie das Ebola-Virus oder das HIV-Virus?
Woher stammt diese Panik-Reaktion auf SarsCov2?

Nun.
Es sind alles Ärzte & Ärztinnen (oder AbsolventInnen benachbarter Fächer), die auf diese Weise reagieren. (Und auch VirologInnen und EpidemologInnen haben fast alle Medizin studiert.)
~

Seitdem ich denken kann, hatte ich mit ÄrztInnen zu tun (nie selbst als Patientin; und nach meinen Erfahrungen werde ich auch keine Patientin mehr werden).
Das sind fast alles zweifellos gutmeinende Menschen.
Das sind fast alles zweifellos sich selbst überschätzende Menschen (1er Abi [übrigens: auch ich bin eine Einserabiturientin], Papi is Chirurg, Chirurgenprof. oder Richter [schlimmstenfalls is Mami Internistin oder Haut-/Augen-/Frauenärztin], Hippoeid und Pferdchen sind also im Stall; oder auch die Kompensationsmaschine: Schlimme Herkunft, hochgekämpft, und nun Rettungsrakete im Weißkittel).
Das sind fast alles zweifellos LügnerInnen, weil sie es nicht zugeben können, wenn sie ratlos sind, wenn sie nicht weiterwissen, und dass sie etwas, was im Körper des Patienten passiert, nicht verstehen. – Ärzte und Ärztinnen lügen dann einfach und unzähligfach [sic!].
Und: Das sind fast alles zweifellos entsetzliche Feiglinge, sobald es ums und ans Sterben geht.

Für all das war ich mehrfach Zeugin, und ich werde Zeit meines Lebens nicht aufhören, davon Zeugnis abzulegen.
Nö, hör’ ich nicht mit auf.

Dass diese Gruppe der Gattung Homo sapiens, die sogenannten MedizinerInnen, die seit Jahrzehnten strenggenommen (guckt doch mal bitte in die Akten der diversen „Kammern“ und sonstigen Berufsorganisationen von ÄrztInnen) überwiegend nichts anderes sind als Standes-TechnokratInnen – dass die jetzt über uns alle bestimmen, so als hätte ich denen meine Wählerinnenstimme gegeben,
das
ist etwas,
für das ich kein Wort habe. Ich kann noch nicht einmal politisch vernehmlich Nein sagen, weil es für diese Medikokratie kein demokratisches Organ gibt in unserer Verfassung.

Aber es gibt alte Symbole für wortlose Freiheitsrechte:
Aufrechtstehen.
Und dann und wann die linke Faust geballt gen Himmel strecken.

Schichten

Sedimentschichten

Schritt für Schritt, Tag für Tag laufe ich in dieser Zeit auf den stattgehabten Tod zu.
Auf den kommenden laufe ich glücklicherweise wie alle Lebenden auch den Rest des Jahres zu, aber auf den Tod, der schon war, laufe ich jetzt Tag für Tag und Schritt für Schritt zu wie damals.
Bald wird er zum elften Mal sein (denn des Todes erstes Mal zählt, im Gegensatz zum ersten Mal der Geburt, mit).

Schon jetzt überlagern sich, wie immer, die Schichten.

Wir laufen Schritt für Schritt, Tag für Tag tiefer in diese rostige Stacheldrahtigkeit, wortlos, sachte blutend aus unzähligen. Tag für Tag tiefer. Hinein. In drei Wochen werden wir angekommen sein.
Und letztmalig etwas teilen. Ein Bett in einem fremden Krankenhaus. Eine Tasse Kaffee. Die Luft in einem Raum. Die Angst (nur stumm, nur stumm). Zärtlichkeiten. Die vorletzten Minuten. Dann noch, ein Zeit lang, unsern Blick.

Ich laufe wie am Schnürchen. Auch den erstmals problematischen Vertretungskurs habe ich nun mit Strenge, Lust und pädagogischem Charisma bezaubert, indem ich aufnahm, was aus ihm herauskam. Ich laufe in der Schmalspur und mache „funz, funz, funz“ – kein Lieben, kein Leben, kein Lesen und kein Schreiben mehr, aber ich laufe am Schnürchen aller Erwartungen, zum Teil auch meiner, und dass man nicht immer alle Erwartungen erfüllt, ist doch klar.

~
Dass es nun eine „Dekade“ sein wird – ja, ich kann mich diesen Traditionen nicht entziehen. In diesem Jahr rollt sich die Stacheldrahtigkeit, die damals war in den letzten Wochen vorm und in langen Jahren nach dem Tod, erneut sehr rostig aus.
Ich laufe hinein, blute sacht’ unzählig.
Und ich laufe in der Spur, strahle sanft, tätig.

Und finde im Witwesk Bluten und Strahlen gleichermaßen ungehörig.