Heute vor zehn Jahren, am 10. Juni, der Lebensmensch war 46, ich 42, kam die zweite Krebsdiagnose.
Die erste war grad mal ein Jahr und zwei Monate zehn Monate* alt. Die galt als relativ gut heilbar.
– Aber nichts war „gut“: Nicht der Verlauf der OP(s), nicht der Verlauf der Rekonvaleszenz, nicht der Verlauf der Chemotherapie.
Nach einem Jahr und zwei Monaten zehn Monaten* kam der zweite Krebsbefund.
Eine extrem seltene Metastasierung ins Bauchfell. (Wie ja schon zuvor im „Krankheitsverlauf“ alles „extrem selten“ gewesen war – und bleiben sollte.)
Zu 95 – 100 % tödlich, meistens binnen eines halben Jahres.
Wir waren – und vermutlich nicht erst, seitdem es einen jeden von uns beiden auch im Wir gab – immer anders als die Mehrheit.
Dieses Mal nicht.
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Mir sind in dieser Woche zwei Sätze gesagt worden, die – ja, was eigentlich?
Behelfshalber: Die mich ratlos machen.
Der eine Satz war ein Aussagesatz. Er lautete sinngemäß: „Sie können den Tod Ihres Mannes nicht vergessen und nicht verwinden, aber so etwas können fast alle außer Ihnen vergessen und verwinden.“
Der andere Satz war ein Fragesatz zu einer Person aus der Blutsfamilie. – Gut, es ist zu veranschlagen, dass die fragende Person nicht mehr ganz auf der Höhe ist. Davon unabhängig habe ich mit jener gelinden Gleichgültigkeit geantwortet, die mir da zueigen geworden ist.
Der Aussagesatz hingegen hat mich erneut traurig und erzürnt gemacht, ein wenig (das stumpft ja bei fortdauernden Wiederholungen auch ab):
Ich weiß, dass „alle anderen“ „besser trauern“, also ihre Toten verwinden, vergessen.
Ich weiß das.
Und manchmal bin ich neidisch auf all diese glücklichen Ex-Verwitweten, die ihre Toten verwunden und das Leben mit ihnen weitgehend vergessen haben, und nun im Arm anderer Liebesmenschen liegen und ein „neues Leben“ leben.
Dass also fast alle anderen „besser“ trauern als ich, weiß ich jetzt, nach bald zehn Jahren seit dem Tod.
Weiß, dass es normal ist, irgendwann seine Toten im Alltag weitgehend vergessen zu haben und in Erinnerungsmomenten keine extreme Traurigkeit mehr zu verspüren (ist mir mit meinem Vater auch so gegangen); weiß, dass es normal ist, ein neues Leben anzufangen, sofern der tote Mensch Liebespartner oder Kind war (das bekomme ich ja überall zu lesen); weiß, dass die wenigsten Menschen zwei gleiche Krebse binnen gut eines Jahres im allernächsten Familienkreise sowie währenddessen die simultane Annihilation ihrer Arbeitsinstitution und dadurch bedingt ihrer beruflichen Zukunftschancen erleben (was mir widerfahren ist).
Ich weiß das alles.
Ich bin aber mein Leben, wie alle ihr Leben sind.
Und ich lasse mir mein Leben nicht absprechen, nur weil nichts davon normal ist.
Und ich lasse mir meine Reaktion darauf nicht absprechen, denn sie ist völlig normal angesichts dessen, worauf sie erfolgt – auch noch nach zehn Jahren.
Und ich weiß: Ich bin nicht meines Glückes Schmied, so wenig wie irgendjemand.
Und auch nicht der meiner Traurigkeit, die mir angewachsen ist als dichter, weißrauschender Pelz.
* Nachtrag vom 15.07.2020: Wieder habe ich die Zeit falsch berechnet, wieder habe ich uns mehr Zeit gegeben, als wir hatten.
Diagnose 1: 05.08.2009,
Diagnose 2: 10.08.2010.
Das sind nur zehn Monate, nicht 14. (– Wir waren ja nach knapp 15 tot.)