Ausräumen

271 Ausräumen

Bald – in fast drei Monaten – werden wir zehn Jahre tot sein.
Das beschäftigt mich.
(Und wenn jetzt wieder einmal jemand das Offensichtliche sagt, nämlich, dass ich doch gar nicht tot sei, dann werde ich ihm wieder einmal erklären, dass vor zehn Jahren diejenige, die ich damals nach Langem und durchaus einigen Mühen endlich zu werden im Begriffe war, genauso gestorben ist wie der Lebensmensch, nur dass ihm obendrein auch noch physisch der Tod beschert ward.)

Ich räume aus.

Schon lange, seit Jahren, immer wieder mal.
Die falschen Vertrauten, die damals schon längst keine mehr waren, als erstes. Als zweites dann aus blanker finanzieller Not unsere Arbeitszimmer. All die falschen Freunde über Jahre hin. Meinen Kleiderschrank mit all diesen Uni-Klamotten seit diesem Frühjahr. Nunmehr vielleicht auch unser Geschirr, das, bevor es unsers wurde, lange Jahre zuvor mein Geschirr gewesen war (nur damit keine falschen Vorstellungen aufkommen: „Rondo“ von Ikea, aber immerhin für 8 Personen) . Alte Mails (von den falschen Freunden und den genauso verlogenen Bekannten).
Und auch jene Mördergrube in meinem Herzen, in die ich eine Ex des Lebensmenschen gesteckt habe, die – nach Ewigkeiten ohne Besuch – drei Wochen vor seinem Tod noch einmal bei uns aufkreuzte, und die – eine Ärztin – sich bis heute trotz meiner etlichen Anfragen weigert, mir zu sagen, was sie dem Lebensmenschen damals erzählte, das ihn dann mitveranlasste, alle Hoffnung endgültig fahren zu lassen, denn nach deren Besuch ging nichts mehr von dem, was zuvor noch einigermaßen gegangen war (essen, schlafen, lesen, denken, Schmerzen aushalten, Hoffnung haben)
– sogar diese Mördergrube in meinem Herzen versuche ich auszuräumen: Eine Korrelation ist nicht zwangsläufig eine Kausalität! {Und wenn in diesem Falle doch, dann hätte sie damals dank ihrer Position in seinem Leben und in ihrem ihm womöglich einen Herzenswunsch erfüllt, was mich dankbar machen würde. Und wozu ich damals aufgrund meiner Position in seinem Leben und in meinem Leben nicht instandgesetzt gewesen wäre. – Doch das ist alles nicht zu wissen.}

Wenn ich Glück habe, wird sie leer bleiben, die Mördergrube in meinem Herzen.
Aber bleiben wird sie.

Leer geblieben ist übrigens vieles, seitdem ich ausräume. Vieles, das zum Zentrum gehört, welches selbst ja seit bald zehn Jahren vollkommen leer ist. *
Die Peripherie konnte und kann ich – immer wieder zu meinem Erstaunen – neu füllen: Die einstigen Arbeitszimmer mit einer Mieterin oder einem Mieter (alles sehr nette Menschen, da hatte ich ein Riesenglück bisher); den Kleiderschrank mit neuer Garderobe; jetzt vielleicht die dann erst noch zu schaffende Lücke vom alten Geschirr durch ein neues.

Mich wundert nicht, dass ich materialiter fülle. Es geht nur um die Peripherie. (Doch was heißt da „nur“? Ich habe auf meiner Eisscholle sechs, sieben Jahre lang wie Gregor auf dem Stein existiert.)
Das Zentrum bleibt leer.

* – Und nur damit erneut keine falschen Vorstellungen aufkommen: Allmählich findet der Gedanke in mir Platz, dass das Zentrum immer leer ist.
Ich weiß und wusste stets, dass nicht ich das Zentrum bin und dass nicht der Lebensmensch das Zentrum ist: Wir haben acht Jahre lang eine 750 Kilometer-Fernbeziehung in inniger Liebe und durchdringender wissenschaftlicher Neugier gelebt.
Im Krebs sind wir beide gemeinsam dann 15 Monate lang zu etwas geworden, das ich für das Zentrum hielt. Denn es musste da leider von Anfang an ein GEGEN her – gegen alle und alles.
Und mit ungeheurer Intensität. Mit ungeheuerlicher Intensität. Mit Supernova-Intensität (– sorry, aber die glüht mich bis heute ein paar Grad weit ins Leben).
So etwas kann irrtümlich durchaus für ein Zentrum gehalten werden. Mir jedenfalls ist das passiert.

Erst langsam lerne ich: Wenn man so irrsinnig gegen alle und alles kämpfen muss, wird man kein Zentrum, denn dann muss man darauf bedacht sein, von allen und allem abzuprallen. (Das war damals überlebensnotwendig. Andernfalls hätten wir keine drei Wochen überlebt. Und dass wir die überlebten, ist im Rückblick sinnlos: Die 15 Monate, die wir dann insgesamt überlebten, waren eine Wanderung durch eine Art Hölle.
Diese aber hatte immerhin ein Ende.)

Erst langsam erinnere ich mich:
Das Zentrum ist immer leer. Seit Menschengedenken.
Vielleicht, damit die Menschen Platz zum Denken haben.

PS:
Ich habe vorgestern nicht daran gedacht, dass da vor elf Jahren die erste Diagnose kam. (So, wie ich in den letzten Jahren mehrfach schon mehrere der Krebs-Daten – und sogar einige der Liebestage – vergessen habe.)
Ich weiß, dass ich nicht vergessen kann, wie das war damals: die erste Diagnose. Und wie das, was darauf folgte, war.
Aber wenn ich anfangen kann, nicht mehr am Datum daran zu denken, dann ist vielleicht irgendwann meine Lebenswelt soweit ausgeräumt, dass das Denken selbst wieder Platz findet.
Und Denken ist alles: Phantasie, Analyse, Deduktion, Experiment, Traum, Abstraktion, Zweifel, Induktion, Rück- und Rundweg, Synthese, Ausfallschritt, Versuch, Tanz und
ist
ohne Fühlen nicht möglich.

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