Blick in das Novembernicht*

„Zeugnis ablegen bis zum letzten.“ (Victor Klemperer)

Bald wird der Lebensmensch 13 Jahre tot sein, werde vor 13 Jahren ihn – lebend und tot – zum letzten Mal im Arm ich gehalten haben, und wird mein Leben (Nr. 1, das mit der Nummer 2 ist kaum des Namens wert) seit 13 Jahren beendet sein.
Die Frage, warum damals unser Plan nicht aufging, warum ich lebte und immer noch lebe – sie stellt sich jetzt mit einer mir früher, nach dem Tod, unbekannten Wucht. Die wuchs in den letzten bald vier Jahren stetig. Doch nun hat sie nochmals neuen Schub bekommen, denn nie, auch nicht in den aller Elemente entzogenen Zeiten der Trauer, fühlte ich mich so verloren wie jetzt, da die Menschheit in Europa, dem Nahen Osten und Nordamerika sich anschickt, aller Menschheit ein Ende zu bereiten, nachdem sie die Menschlichkeit bereits getötet hat.
Doch nie zuvor auch fühlte ich mich mir meiner so sicher (die ich das auch durch den Lebensmenschen geworden bin): Ich bin Mensch des 20. Jahrhunderts, der Dialektik der Aufklärung: ich bin Frage & Zweifel und meine Augen sehen doch der Welt und des Menschen Schönheit.
Ab und an.

*
Novembernicht

wo alles noch war
unter krähenhimmel und sonnensturz und
dann letztklar
Dein feines glasbläserhaar
und im bienengrund Deiner lippen voller mund
das honigrund

Dein federatem
unser augenfest getanzt in der pupillen schacht
mein schrittversagen
Dein unendlichfragen

novembernacht

wo alles nicht mehr ist
rundet sich die zeit zu einem punkt
jahr-es-frist
sich selbst an diesem punkt mit krähenlist
im novembernicht, im regenschlag, im zeitenwund
novemberschlund.

(© Corinna Laude, 01.11.2011)

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