Langsame Ankunft

Werden mich unsere Enkel- und Urenkelkinder fragen: „Du hast doch alles gewusst, warum hast Du nichts getan?“ – Nein: Diese Frage noch zu stellen, wird niemand mehr da sein.
Dennoch: „Zeugnis-Ablegen bis zum letzten.“ (Victor Klemperer)

An vier Abenden pro Woche muss ich jeweils etwa 3,5 Zeitstunden lang funktionieren, also sprechen, zuhören, meine Mimik im Griff haben, freundlich sein – besser noch: fröhlich wirken.
Natürlich alles online, denn meine nebenberufliche Tätigkeit (und nein: Schon längst habe ich keinen „Hauptberuf“ mehr, aber diese Begriffe sind wie alle ohnehin nichts wert) findet seit Mitte Dezember 2020 wieder nur noch online statt.
Das geht noch weitere drei Wochen so. Danach wird es sich dann wieder auf zwei Abende pro Woche reduzieren. Oder auf Null.

Nie erschien mir all mein Tun sinnloser als jetzt. – Noch nicht einmal im Krebs. Denn da war wenigstens klar, dass ich nichts und auch sonst keiner {auch kein Arzt!!!} „etwas tun“ kann. Sondern, dass außer Vorhandensein und Abwarten nichts, gar nichts möglich ist (und auch das war manchmal nicht möglich).
Jetzt aber erscheint mir all mein Tun, dieses ganze allabendliche DaZeln, der wöchentliche oder besser noch 14tägige Einkauf, das vormittägliche Aufstehen, der Frühjahrsputz, der Gang zum Briefkasten dann und wann – alles vollkommen sinnlos.

Nie wieder werde ich in einem Opernhaus eine Oper hören.
Nie wieder werde ich die Gattung „Mensch“ achten können.
Nie wieder werde ich ans Meer fahren dürfen.

Immer schon war ich in bestimmter Hinsicht langsam im Begreifen – aller mir zigmal attestierten „schnellen Auffassungsgabe“ zum Trotz. Und so dauert es auch diesmal lange. Aber ich spüre: Langsam kommt es bei mir an.
Dass alles vollkommen sinnlos war und ist, was ich je tat und tu’. – Und mehr noch: Dass es spätestens jetzt ein Verbrechen ist. Wie schon im Falle meiner vier Großeltern, die auch einfach nur mittaten und allmorgendlich aufstanden, putzten, kochten, zum Briefkasten, zur Arbeit und zum Einkaufen gingen von 1933 bis 1945.

Dass ich allein bin, ist hilfreich. Aus mindestens zwei Gründen:
1. Einer der letzten tröstlichen Gedanken, die ich noch habe, ist, dass der Lebensmensch diesen Angst-Wahn der Menschheit und den daraus resultierenden Totalitarismus jetzt nicht mehr miterleben muss.
2. Wäre der Lebensmensch noch da – wer weiß, ob wir uns nicht gegenseitig inmitten dieses namenlosen Menschheitsirrsinns „Halt“ gäben und ihn dadurch verleugneten.

Dass ich allein bin, macht mich augenklar (thx einmal wieder @ Gryphius für dieses Wort).
Was ich jetzt sehe, entsetzt und ekelt mich wie nichts zuvor, das ich als Augenzeugin sah.
Dass ich allein bin, lässt mich langsam ankommen im Letzten, das ich wie alles, was lebt, noch zu tun habe. (Und ich stürbe gern außerhalb meines Entsetzens und Ekels: ich stürbe gern fern von der Gattung „Mensch“. – Sinnlose Konjunktive, wieder einmal.)

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