Auslöschungen

das Fehlen
Werden mich unsere Enkel- und Urenkelkinder fragen: „Du hast doch alles gewusst, warum hast Du nichts getan?“ – Nein: Diese Frage noch zu stellen, wird niemand mehr da sein.

Jemand hat bald nach dem Tod, wohl weil ich mich davor laut gesehnsuchtsfürchtet hatte, die einzige noch auf unserem AB gespeicherte Nachricht des Lebensmenschen gelöscht, als ich aus der Todeszone noch nicht wieder zu Hause war.

Der Lebensmensch hat diese Nachricht am Vorabend des 11. August 2009 auf unseren Anrufbeantworter gesprochen. Weil ich noch unterwegs war. Nach Haus auf dem Weg vom Krankenhaus. Das wir am Morgen des 10. August aufgesucht hatten, in dem er dann nach all den üblichen langen Prozeduren einquartiert worden war, und das ich erst vor kurzem verlassen hatte.

Ich bin sicher: Er wollte mir eine Nachricht auf unserem AB hinterlassen. Andernfalls hätte er mit seinem auf meinem Klapphandy anrufen können und nötigenfalls dort eine Nachricht hinterlassen.
Aber er hat unseren Festnetzanschluss angerufen. Und auf unserem AB die Nachricht hinterlassen.
Es war eine lipschitz-Nachricht und der Schellenengel hat getanzt, während der Lebensmensch sie auf unseren AB sagte, mit unserem Atem, unseren Pausen, unseren Worten, seinen und meinen.

Er hat dann noch über ein Jahr gelebt. Und nie diese Nachricht gelöscht.
Es war immer diese digitale rote│ auf dem AB. Und wenn daraus eine 2 oder 3 geworden war, haben wir das abgehört und dann gelöscht. Nie aber diese digitale rote│.

Als er tot war, wusste ich erstrecht nicht mehr, wie ich das Atmen aushalten sollte.
Ich wusste da auch nicht, wie ich diese digitale rote│aushalten sollte. Oder seine Stimme, seine lipschitz-Worte vom Vorabend der ersten OP. – Und ich war so dumm, das zu erzählen.

Also hat jemand, der es zweifellos nur gut meinte, die letzte Nachricht des Lebensmenschen auf unserem AB gelöscht.

Ich habe das gesehen, kurz nachdem ich aus der Todeszone in unsere Wohnung zurückgekehrt war, die nicht mehr unsere Wohnung war: Es war keine digitale rote │ mehr auf dem AB.
Das kam damals schlicht zu all dem Fehlen hinzu, und weil damals des Fehlens so viel war, dass ich nicht mehr wusste, wie das Atmen tatsächlich auszuhalten sein sollte, fiel dieses Fehlen, diese Auslöschung gar nicht gesondert auf.
Seit ein paar Jahren aber, seitdem ich zur Kenntnis nehmen muss, dass ich atme auch ohne es auszuhalten, weiß ich um diese gelöschte Nachricht wieder. Und sie fehlt mir:
Bitter.

~ ~ ~
Jetzt, da mir das Atmen aus ganz anderen Gründen als vor zehn, elf Jahren fast unerträglich geworden ist, fehlt diese letzte Nachricht des Lebensmenschen mir so, dass ich das Fehlen nicht nur schmecke als Bitternis, sondern querdurch spüre.

Vielleicht hätte seine letzte Nachricht, seine Stimme und das leise Klingelingeling der Schelle im Hintergrund da auf unserem AB mir jetzt in dieser haltlosen Zeit zu Atem verholfen.
Ich werde es nicht mehr wissen: Jemand hat die Nachricht gelöscht, und das sicher nur gut gemeint. { Bitte hört auf, etwas gut zu meinen! Und beginnt ein gutes Tun: Beginnt, die Menschen zu fragen, bevor ihr es gut mit ihnen meint! }

Jemand hat die Nachricht gelöscht. Die 15 Monate lang uns beide durch all den Wahnsinn getragen hat. Wenn auch vergeblich. Aber immerhin 15 Monate lang: quer durch den Irrsinn.

Vor drei Tagen sagte ich einem: „Es ist gut, dass mich der Lebensmensch (und auch sonst keiner) nicht mehr in den Arm nimmt. Denn wer in den Arm genommen wird, schließt oft die Augen. Dabei kommt es in Zeiten wie diesen darauf an, »augenklar« (© Andreas Gyphius) zu sein.“

Letztlich also wird es doch gut gewesen sein, dass einer unsere letzte Nachricht auf dem AB damals gelöscht hat:
Keine Stimme
kein Lipschitz
kein Schellenklang
mehr für mich (noch nicht mal mehr vom Band), nur noch der tonlose Irrsinn namens Corona-Politik-Regime.

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