Gnade, vielleicht jetzt doch endlich

252 Gnade

Gnade mit der Gattung, der Krone der Schöpfung [s. Gottfried Benn: Der Arzt II] durch die Schöpfung in Gestalt einer allen sich auf Haupt und Mund und Rachen und Lunge setzenden Krone?

Langsam frage ich mich: Womöglich meint es dieses Corona-Virus gar gut mit der Gattung?

Die Gattung Mensch in den G7- oder eher wohl in den G-20-Staaten erwartet aktuell, dass ein jeder einzelne von ihr mindestens 78 Jahre, wenn nicht mindestens 85 Jahre alt wird – und das glücklich. Und in zehn Jahren dann nochmals glücklich zehn Jahre älter. Und in zwanzig Jahren dann nochmals 20+x Jahre älter in vollkommenem Glück. Und dann irgendwann gar nicht mehr stirbt.
Das erwarten die Menschen in diesen Ländern aktuell. Und ihre Erwartungshaltung wurde erzeugt und wird seither gefüttert durch waghalsige demographische Hochrechnungen irgendwelcher Institutsvorstandsvorsitzenden und durch irrsinnige Versprechungen irgendwelcher Hi-Tech-life-sience-Gurus.

Okay. Ich bin ein witwesker Eisbär. Ich finde die Vorstellung von „Unsterblichkeit“ grausam.
Gleichgültig, ob es sich nun um das uralte religiöse Konzept der Seelen-Unsterblichkeit handelt oder um die rezente narzisstische Hoffnung auf die eigene Komplett-Unsterblichkeit.

Die Vorstellung, nie enden zu dürfen – das ist für mich das größte Grauen.

Unendliches Paradies, Tag um Tag Seelenfrieden, und morgen genau das Gleiche wieder von vorn (denn irgendwann nach ∞-Umläufen ist alles gleich) – welch unsägliche Hölle. {Und ich bin sicher: Auch wenn der Lebensmensch dort wäre – nein: Erstrecht, wenn er dort wäre: UNSÄGLICHE Hölle für einen jeden!}

Das aktuelle Corona-Virus lässt die Gattung „Mensch“ nun in einer größeren Zahl als bislang im Alter von 75, erst recht im Alter von 85 oder 95 Jahren sterben. (Und wie jedes Virus und jede Krankheit lässt es auch manche jüngeren Menschen sterben. Viele davon adipös oder zumindest so übergewichtig, dass es zum Diabetis reicht, viele davon RaucherInnen. Und manche davon kerngesund – wie immer bei tödlichen Krankheiten.)
Um das zu verhindern, verabschiedet sich die Menschheit gerade – temporär – vom Kapitalismus und damit von ihrer Wirtschaft. Das wiederum hat zur Folge, dass Milliarden von Menschen verarmen und/oder hungern und/oder verhungern werden, die meisten davon Kinder und Jugendliche.
– Wenn damit dauerhaft dem Kapitalismus der Garaus gemacht wäre, gäbe es ja Hoffnung.
So aber, so werden die Milliarden Toten wieder vergebens sein, denn der Kapitalismus wird fröhliche Urständ feiern. Und umso brutaler zurückkehren, wie schon so oft, wie noch ein jedes Mal.

Und es wird sie irgendwann geben: die unsterblichen Menschen.
Und sie werden das dann nicht mehr rückgängig machen können. Und sie werden sich täglich mehrfach selbst schreddern. Doch sie werden es nicht mehr rückgängig machen können.

~ ~ ~
Vielleicht aber ist all dem nun das Kronen-Virus vor. Eine minimale Chance besteht.

Entdeckungen

251 Entdeckungen
Im Zeitalter von Corona mache ich witwesker Eisbär (wenig erstaunliche) Entdeckungen.

Heute wurde ich gefragt, inwieweit sich mein Alltag geändert habe.
Ich musste antworten, dass er sich fast gar nicht geändert hat. Der Ausfall des DaZelns begann erst diese Woche, das ist noch nicht spürbar. Der Ausfall einer anderen regelmäßigen Veranstaltung wird erst nächste Woche beginnen. Gestern war ich noch auf dem Iron-Widow-Parcours. Morgen vermutlich nicht mehr.

Wenn das alles weggefallen sein wird, wird sich mein Alltag dennoch kaum ändern. – Oder eher: Er wird einfach wieder auf das zusammenschnurren, was lange Jahre nach dem Tod war:
Existenz. Das Minimum.
Allerdings gab es damals noch deutlich mehr Menschen in meiner Existenz. Es gab Telefonate, es gab Mails, es gab mitunter gar Treffen. Das hat sich schon vor dem Zeitalter von Corona extrem reduziert. Aus Gründen.
Gleichzeitig hat sich in den letzten Jahren ans Existenz-Minimum Einiges angelagert (die Entgrenzung meiner ‚Befindlichkeit‘ im Musik-Erleben zum Beispiel oder ihre Eingrenzung, ihre Stabilisierung durch die narzisstische Zufuhr beim DaZeln). Und das war ‚gut‘, denn eine dauerhafte Existenz auf Existenz-Minimum-Niveau tötet, leise & langsam.

Jetzt im Corona-Zeitalter brechen auch noch meine letzten Menschen-Kontakte weg (und sei es nur die Konfrontation mit Hunde-Besitzern beim Joggen im Park). Und ich entdecke:
Mich macht das unsagbar traurig.

Und das überrascht mich, auch wenn es von außen betrachtet völlig logisch ist, denn auch ein witwesker Eisbär ist ja letztlich ein Mensch: des Kontakts bedürftig, auch wenn der wie alles bei witwesken Eisbären jahrelang aufs Existenz-Minimum reduziert werden kann.

Wird das unterschritten, vermögen sich witweske Eisbären auf eine Eisscholle zu setzen und davonzutreiben (dessen bin ich mir mittlerweile sicher).
– Und diese Option gibt mir im Moment jenes Quentchen ‚Mehr als nur Existenz‘, das dafür sorgen könnte, mich auf den (pflanzlich leider wintertoten) Balkon zu setzen, wenn die Sonne weiterhin so scheint wie heute, oder vor den letzten Proust-Band oder hinter die Schreibmaschine.
Im Moment, und wer kann schon über den hinaus leben.

{Und wieder ist es gut zu wissen: Kein Mensch wird mich bitterlich vermissen.}

Gehofft habe ich – wieder vergebens; und dumm.

250 Wieder vergebens gehofft
Jetzt wird es kommen. Alles, was ich kenne, aber die meisten Menschen hierzulande, in Europa, in Amerika, in den Hi-Tech-Staaten Asiens nicht kennen.

Jetzt werden kommen und sind zum Teil schon da:
– dass alles plötzlich völlig anders ist als bisher und viel, viel, viel schlechter
– und dass nichts mehr sicher ist
– dass gestorben wird, lang vor des Todes Zeit
– und dass alle „Freunde“ weg sind, während man stirbt
– dass der Mensch dem Mitmenschen zur Bestie werden wird (wie immer in solchen Situationen).

Mein Lebensmensch und ich haben das, was die Welt nun erlebt, vom 5. August 2009 bis zum 12. November 2010 in unser beider Leben erfahren. Bis hin zum Tod. Der Lebensmensch auch physisch. Ich nur psychisch, sozial und ökonomisch.

Mich dauert diese Menschheit, die so kapitalistisch durchseucht ist, dass sie in ihrer jetzigen Form an dem, was nun ist und noch kommt, nur scheitern kann.

Und die meisten Überlebenden (ich wiederhole mich) werden dann einst darüber, was nun geschieht – wieder schweigen. So dass, gesetzt den Fall, es überleben jetzt ‚genug‘, erneut nichts gelernt werden kann, wie immer.

Vor 700 Jahren schrieb inmitten der Schwarzen Pest, also inmitten des GROßEN STERBENS, Giovanni Boccaccio ein Menschheitsbuch, in dem er auch über den Maler Giotto schrieb (und während seines Schreibens natürlich an das Menschheitsbuch dachte, das Dante eine Generation vor ihm geschrieben hatte).
Etwa 75 Jahre nach diesem GROßEN STERBEN, eine Generation nach Boccaccio, begannen Brunelleschi, Donatello, Uccello, Masaccio, Alberti, Mantegna, Bellini und andere – auch eingedenk der Bilder Giottos und einiger Bücher – Menschheitsbilder zu malen.
In fast all diesen Bildern, in fast all diesen Geschichten wird – bei allem Leben – vom Sterben gesprochen: vernehmlich und augenklar.

Jetzt, 700 oder 650 Jahre später haben wir all das vergessen.
Und sind Kinder. Tanzen cheek to cheek um Clo-Rollen-Packungen herum, reiben uns mit den Köcheln beider Hände (so verschlafen!) die Augen ob der exponentiellen Sterbensverläufe, und werden als Gattung mit dem Massentod erneut nur zurechtkommen, indem wir ihn hinterher wieder beschweigen.

Doch es wird Bücher geben. Es wird Bilder geben.
Und wie immer: Auch sie werden sofort vergessen werden, und nicht erst in 500, 700 oder 1200 Jahren vergessen sein; dann aber auch.
~ ~ ~

Mein persönlicher Wunsch:
Sofern ich richtig informiert sein sollte, erholt sich aktuell „die Natur“, aus der der Mensch schon lange ausgestiegen ist, obwohl er doch nie wird aufhören können, ein Teil von ihr zu sein.
– Ich wünsche mir, dass die Natur auf den Menschen als ihren Bestandteil pfeift und dieses von ihr einst hervorgebrachte „Mensch“ als eins von unzähligen Falschen endlich tilgt.
Und einfach ihr Ding macht wie jeden Tag – neu.

{Und der Lebensmensch fehlt mir bitterlich. Allein schon wegen des Lachens. Von den Armen, den Lippen zu schweigen.}

Von Stunde zu Stunde

249 Evolution

Von Stunde zu Stunde lebte ich am Ende von Leben #1 etliche Monate und am Anfang vom Witwesk viele Jahre lang.

Ich vermag das jederzeit wieder zu tun: von Stunde zu Stunde zu leben und immer dessen gewahr zu sein, dass jederzeit alles völlig anders sein und auch der Tod kommen kann (und der eigene willkommen ist).
Nur gilt das jetzt nicht mehr nur für mich und meinesgleichen, sondern für alle Menschen. Und die meisten sind das nicht gewohnt. Die meisten haben nie erfahren, wie das ist: Von Stunde zu Stunde zu leben und des Todes gewiss zu sein (oder ihn gar willkommen zu heißen: wohlgemerkt den EIGENEN Tod).

„Und spinne diese Quarantäne weiter: Womöglich wäre ein gänzliches Einstellen unseres ‚öffentlichen Lebens‘ für zwei Wochen […]“ (aus: Witwesk, 10.03.2020) – das zitiere ich jetzt, dabei war es mir schon immer, auch in den wissenschaftlichen Arbeiten des Lebens #1, peinlich, mich selbst zu zitieren.
Jetzt ist es mir doppelt peinlich, denn ich haben einen Fehler gemacht, den man nun im Zitat nachlesen kann:
Es geht nicht mehr um „zwei Wochen“.

Und es geht auch nicht mehr um die nun einstweilen regierungsoffiziell verhängten fünf Wochen bis zum Osterferien-Ende.
Es geht um Monate. Vermutlich um mindestens ein Jahr, bis vielleicht ein Impfstoff gegen „das Virus“ gefunden sein wird.

Derzeit sehe ich keinen Weg, wie das gehen soll für die Menschen.
Drei, sechs, neun, zwölf Monate ohne Arbeit, also ohne Lohn und narzisstisch Brot, und ohne circenses: ohne Kneipe, Schwoof, Kino, Bibliothek, Museum, Konzert, also ohne all das Menschenmachende – wie soll das gehen für die Erwachsenen?
Drei, sechs, neun, zwölf Monate ohne Schule, ohne Ausbildung, ohne Studium, also ohne Sozialisation und Kultivierung von Bildungsprozessen für die Heranwachsenden, wie soll das gehen?

Wie soll das gehen für die Menschen?
Die nicht gelernt haben, von Stunde zu Stunde zu leben, weil sie nie erLEBT haben, wie es ist, wenn der Tod das Leben, ihr Leben, mitten entzweibricht.
Die denken, sie hätten ein Recht auf Leben, auf Coffee to go (mittlerweile im nachhaltigen Tauschbecher), auf Karriere&Kind(er), auf Planbarkeit und Sicherheit und Glück.
Wie soll das, was jetzt ist, gehen mit diesen Menschen?!

Und ich persönlich, der witweske Eisbär, dem die Menschen schon so lange fremd geworden sind, spüre, wie mir ihr Schicksal nun doch ans Herz zu gehen beginnt:

Es ist unabwendbar, dass sich auch jetzt wiederholen wird, was sich immer ereignete, wenn es für Menschen „ums Überleben“ ging (und übrigens: Das geschieht alle paar hundert Jahre mal massiv und massenhaft, die Spanische Grippe ist da eher noch putzig – ich denke tatsächlich 700 Jahre zurück, was menschheitsgeschlichtlich ja lächerlich ist, doch da starb in Europa etwa ein Drittel aller Menschen binnen weniger Jahre an der sogenannten Pest, und es waren Kinder, Erwachsene und Alte – es starben alle).

Der zivilisatorische Firniss ist immer zu dünn gewesen, und er ist bis heute zu dünn, also wird sich auch jetzt wiederholen, was sich immer ereignet hat, wenn es „ums Überleben“ ging:
Die Bestie, die wir allesamt nach wie vor in uns tragen, wird aufs Neue aufstehen und aus Unzähligen von uns herausbrechen.

~ ~ ~
Und hinterher wird erneut, wie schon unzählige Male zuvor, über das Loch im Gewebe der RaumZeit von den Menschen, die es hineingerissen (oder dabei zugesehen) haben und zufällig nicht hineingestürzt sind, also von den „Überlebenden“ einfach Stille gefegt werden über dieses Loch, dessen Nichts bis zum Beginn der Menschheit zurückreicht – die alles besänftigende, alles ausfüllende, alles stillende Stille der Geschäftigkeit.

__________
Wie ich das da nun schaffen soll – ohne DaZel-Honorar, ohne Musik-Erleben und womöglich irgendwann bald ohne Miete und ohne jeden Kontakt –, das weiß ich nicht.
Aber ich weiß: Es kommt auf mich für keinen Menschen mehr an. (Das macht mich leicht und ein wenig fröhlich. – Und das ist gut, denn ich vermisse den Lebensmenschen in diesen Tagen bitterlich.)
Und ich spüre: Von Stunde zu Stunde verringert sich meine ohnehin nur sacht vorhandene Angst vorm Sterben und vorm Tod.

Das ist jetzt doof

57 Jahrestage

schreibt eine, die unter anderem über Boccaccios „Decamerone“ promoviert wurde, sich damit (neben anderem) also etwa fünf Jahre lang beschäftigt hat. Und dass sie das schreibt, ist nun wirklich doof – von ihr, mir!
Das Coronavirus hat jetzt auch mich erreicht: Zwar gab es heute wieder Clopapier, dafür aber haben nun die Opern- und Konzerthäuser hier dichtgemacht, so dass – bis auf Weiteres – zwei meiner gebuchten Konzerte ausfallen, jeweils Premieren für mich: „Aida“ und „Der fliegende Holländer“. (Was mit dem Rest meines Abos und den anderen Tickets werden wird, muss sich noch finden. Aber das ist ja letztlich immer so. Nur merken wir es jetzt endlich einmal alle, nicht nur die an ‚potentiell‘ tödlichen Krankheiten Erkrankten.)

Und da mir die Musik so wichtig geworden ist, weil sie so viel Leben im Witwesk hörbar werden lässt, finde ich das wirklich richtig gründlich doof.
Weiß aber natürlich als Boccaccio-Leserin und Krebssterben-Innewohnende, dass Konzert-Absagen ein Klacks (aber ein epidemologisch hoffentlich vernünftiger) sind.
Und ertappte mich bei dem Gedanken, ob die Quarantäne, in die unser aller ‚öffentliches Leben‘ nun womöglich gerät, nicht vielleicht auch eine Chance für den Roman # 4 sein könnte. – Kranker Gedanke. Kluger Gedanke.
Und spinne diese Quarantäne weiter: Womöglich wäre ein gänzliches Einstellen unseres ‚öffentlichen Lebens‘ für zwei Wochen, also inklusive unseres Arbeitslebens [und da wird’s dann schwierig, denn es wäre wohl zwischen {über}lebensnotwendigen Arbeiten und solchen, die das nicht sind, zu differenzieren – die Frage wäre nur: für wen {über}lebensnotwendig …] – womöglich also wäre eine solche totale Pause
heilsam.
(Nein, kein Stoff für Roman #5.)

Froh stimmt mich:
– Meine Angst vor dem Sterben und dem Todsein bleibt sich treu und ist unverändert und unverändert sacht vorhanden.
– Meine Haare sind von jenem zauberhaften türkischen Herrenfriseur wieder ganz wundervoll geschnitten worden.
– Ich habe jetzt eine Packung Clopapier auf Halde und werde bis zum Juni meine Toilette benutzen können, sofern mich kein Durchfall und/oder notleidene Freunde/Nachbarn ereilen.
– Die Vormittagsvertretung ist nun auch abgeschlossen, und das Verabschieden heute (nach nur vier Unterrichtstagen) war seitens der Kurs-TeilnehmerInnen so herzlich und leuchtend, dass ich wirklich fröhlich wurde (und wieder einmal daran denken musste, dass mich eine Studentin einst in Leben #1 „einen hochschuldidaktischen Tausendsassa“ nannte).
– Und: Das neue Opern-Abo für die Saison 20/21 ist bestellt! Samt zwei Zusatzkarten für den neuen Ring. Wie ‚immer‘ (also nun zum dritten Male) unterm Dach und wie immer voller Neugier – und: voller Vorfreude; gerade jetzt.
~ ~ ~

Und in allem Froh gilt unverändert (deshalb auch doch das nochmalige Bildrecycling*):
Der Lebensmensch fehlt mir. Gerade jetzt.
{Könnten wir uns nach unserer Erfahrung, einem Krebssterben innezuwohnen, jetzt in ‚diesen Zeiten‘ über ‚diese Zeiten‘, die Menschheit darin und auch über unsere jeweilige Angst vor Sterben und Tod unterhalten, wäre es für uns beide eine Bereicherung; nicht heilsam, vielleicht noch nicht einmal hilfreich, aber bereichernd.
Und tröstlich. So mit Armen und Wangen und Schultern und Brust und Herzschlag und so.}
Er fehlt mir.
֍ lipschitz ₰

* Memo at me: Vielleicht ist’s mit Bildern wie mit Texten. Wenn ein Mensch einmal für sich ein Bild oder einen Text gefunden hat, um es zu sagen, das, was da ist oder eben gerade nicht ist, dann ist dieses Bild oder dieser Text von Belang und von Bestand (für diesen Menschen). Und muss nicht immer wieder neu erfunden werden, vielleicht.
(Aber das soll keine Bewilligung von Faulsein sein!)

Zeitungslektüre: die Palz, und, ja, dann

248 Reich gewesen

Ein hübscher Artikel in der Zeit über Max Slevogts Domizil in der Pfalz wehte alles wieder her.

Zwischen den Dörfern öffnen sich Acker Himmel und Licht
auf schlafende Elefanten in sanftem Dunst: Mogotes
kleiner Entfernung, Pfälzer Wald-Buckel, abendsonnig.
Ein diesiger Schimmer von gewesenem Glück.

Wie reich wir waren.
Wie vermögend der Lebensmensch mich Berliner Pflanze – einen krautigen Bodendecker ohne allzu raumgreifende Ambitionen – werden ließ dort in jenem südlichen Licht auf den abendlichen Fahrten durchs Rebenmeer vor jenen sanften Hügeln der Haardt nach einer Wanderung bis tief in den Pälzer Wald hinein (und immer auf einen von dessen Bergen, manchmal auf eine seiner Burgruinen, oft auf eine der Hütten hinauf).
In diesem Licht, das der ‚richtige‘ Süden nicht hat (und erst recht nicht der bitterlich lichtarme Nordosten dieses Landes), weil dort das sanfte Fruchtbarkeitswogen des an die Haardt anflutenden, von Apfel- und Pfirsichbaumbänken durchzogenen Rebenmeeres ebenso fehlt wie dieser weich sich aufwellende Damm, welcher – folgt man geduldig einem der ihn kraulenden Wege – irgendwann doch noch Gebirgsqualität annimmt. Und auch die passt zu Leuten & Land: Kaum schroff, begrünt oft bis in die schrundigste Steinkerbe, dann und wann bach- und plätschergesäumt, oft menschenleer und immer eindrucksvoll im Detail.

Ohne konkrete Bilder im Kopf zu haben, ohne präzise Erinnerungen an Wanderrouten, oder gar an Wandertage – ich habe begonnen, im Witwesk durch den Pälzer Wald zu laufen, durchs Rebenmeer zu fahren: Ein Weinblattgrün wellt sich auf, ein Sonnengold tanzt mir in die Nase, ein Schattenblau streicht mir über den Kopf.

– Ja. Wir waren reich.

Der Lebensmensch hat mir ein Vermögen geschenkt.
So gern teilte ich es mit ihm.

„Mächtiges Badabumm“

95 Pauken und Trompeten

Nun hat, nach äußerst bemerkenswerten mehr als zwölf Jahren ohne jegliches größere zahnmedizinische Problem, ein Backenzahn im Witwesk seinen Geist aufgegeben, einer der Kandidaten mit riesiger, uralter Amalgam-Füllung, deren ‚Zusammenbruch‘ nur eine Frage der Zeit war und ist – nicht zuletzt deswegen die (mittlerweile altersbedingt teure) Zahn-Zusatzversicherung; und nun wird die – hoffentlich – das Schlimmste finanziell abfedern. (Die Behandlung selbst werde ich wie auch in Leben #1 immer angehen: Augen zu, Klagelippen zu, Mund weit auf und durch. Ich hoffe nur, dass die Zahnarztpraxis nicht Virus-bedingt dicht machen muss.)

Der Zahn brach ganz leise.
Das „mächtige Badabumm“ (ein Zitat aus dem Film „Das fünfte Element“, den der Lebensmensch entgegen seiner sonstigen Vorlieben [und Abneigungen!] sehr gemocht hat) hingegen war gestern im Konzerthaus beim Rundfunk-Sinfonieorchester unter dem Dirigat Vladimir Jurowskis, als dort Anton Bruckners 5. Sinfonie (und ‚mein erster Bruckner‘ überhaupt) gespielt wurde.
Nach einem wunderfeinen, mich wohlgesittet – und vermutlich auch wohltemperiert – gen {bei allem Dur!} mollhellgrauen Wonnehimmel erhebenden letzten Klavierkonzert von Mozart mit Richard Goode am Flügel, der eine Zugabe von ähnlich zartklarer Intimität gab, die ichKretin natürlich nicht zu identifizieren vermochte – einen Dank auch hier an Albrecht Selge, der das in seinem höchst bemerkswerten Musik-Blog „Hundert 11 – Konzertgänger in Berlin“ tat, welchen ich erst kürzlich entdeckt habe!

Danach Bruckner. – Was für ein mächtiges Badabumm!
Damit startet diese Sinfonie ja bereits. Und dann geht das immer wieder auf ganz wundersame Weise in eine volltönende Stille über, wie ich sie bislang selten gehört habe. Das war – auch nach allen Wagner- und Mahler-Erfahrungen – ein ziemlicher Schock und herausfordernd für mich, die ich im 2. Rang (also wie oft bei Musik-Aufführungen dem Himmel ganz nah) direkt über dem Orchester saß; ein wohltuender Schock und eine positive Herausforderung.

Den Konzertsaal lerne ich langsam zu schätzen: Auf diesen orchesternahen Plätzen ganz oben (noch dazu sind es die wohlfeilsten dort!) kann ich die Musik nicht nur irrsinnig gut hören (‚dichter‘, ‚direkter‘ als sonst auf irgendeinem ‚meiner‘ Plätze in den anderen Häusern, was im Konzerthaus bis zu einem Zwerchfell-Hören geht, welchem ich grundsätzlich aber mit Respekt, ja Skepsis begegne), vielmehr kann ich, wenn ich nach vorn auf die Stuhlkante rutsche, auch sehr viel von der Orchester-Arbeit und dem Dirigat sehen – das ist hochinteressant (und hat mich gestern gut durch die Momente drohender Überwältigung geführt; ab und an dann wieder völlig nach hinten rutschen und sich diesem Klang-Furioso ein wenig entziehen zu können, war aber auch ganz schön).
~ ~ ~

Nun lese ich gerade, dass der Gesundheitsminister zur Absage von Veranstaltungen mit mehr als 1000 Besuchern rät. Am Monatsende steht meine erste Aida in der Bismarck-Oper auf dem Programm – hoffentlich.
(Was Oper und Konzert dem witwesken Eisbären an Lebenslinien aufs Notenblatt komponieren, seitdem er begonnen hat, sie zu besuchen, ist – nunja, interessant.)
[Memo @ me: Beende das Bilder-Recycling!]

Splitter-Existenzzeiten

72 Von der Fragilität
Geht ein bissl durcheinander, grad.

Die eigene Kursvertretung ist vorbei, eine mehrfache Fremd-Kurs-Vertretung hat begonnen (noch dazu vormittags, wenn ich eigentlich noch in der Eishöhle liege und schlafe), Thema „Wechselpräpositionen“ (eins der trockensten und kompliziertesten, sieht man von den Genera, der Verbkonjugation und vor allem der Adjektivdeklination ab). Ich kaufe dann immer einen Kuchen und lassen einen Schlumpf auf, unter, hinter, neben, über – und so weiter – dem herumspazieren, um ihn in der Pause an die TeilnehmerInnen auszuteilen (den Kuchen!), nachdem ich mich selbst auf den Tisch (Akkusativ) gelegt habe, um dann dort auf dem Tisch (Dativ) zu liegen. – Merkt hier jemand, WIE kompliziert das für Deutsch-Lernende tatsächlich ist?!

Heute habe ich dann auch noch meine erste sogenannte externe Fortbildung besucht, Thema „Phonetik“ (ich habe aktuell jemandem im Kurs, der den Unterschied zwischen „e“ und „i“ nicht wahrnimmt und entsprechend nicht [re]produzieren kann). Zwar habe ich eine Handvoll praktische Tipps mitnehmen können, doch mal wieder eine falsche Frage gestellt – eine Art Grundsatz-Frage (und die sind bekanntlich immer die falschen). – Naja. Mir war es die Sache dennoch wert; hätte ja sein können … (dass ich da immer noch nicht die Hoffnung aufgegeben habe, ist Naivität, Beklopptheit oder gar Resilienz, jedenfalls egal).
Auf dem Nachhauseweg hat ein extremer Schönling&Gutsituierungsbolzen Mitte/Ende 50, den ich bis zu diesem Augenblick nie zuvor gesehen hatte, mir einen Progammflyer für ein Konzert an der UdK hingehalten, als er aus der U-Bahn ausstieg („Vielleicht ist das was für Sie?“). Ich habe den Flyer nach kurzer Sichtung sogar angenommen. Nachdem das erfolgt war, hatte ich für einen Sekundenbruchteil den Eindruck, dieser schöngeistige Womanizer wollte wieder einsteigen – und da hätte ich fast laut losgelacht. Die genauere Lektüre des Flyers während meiner letzten beiden zu fahrenden Stationen ergab, dass ich an dem Termin bereits ein Konzert-Ticket habe. Und dass ich andernfalls jenes Ravel-Klavierstück von meinem letzten Konzertbesuch, dessen zweiter Satz mich so beeindruckt hat, abermals hätte hören können – seltsamer Zufall!
Jetzt jedenfalls kommen Bruckner (erstmalig für mich) und Mozart und da auch ‚letzte Dinge‘.

Sonstige Splitter unter anderen:
Eine gute Nachricht ist gekommen (wie immer mindestens un-, in diesem Falle wieder einmal gegenteilig erwartet).

Viren-Hysterie beiseite (sie nervt ohnehin nur) – das wäre ebenfalls eine gute Nachricht: Wenn nun der Menschheit geschähe, was ihr bereits im Europa des 14. Jahrhunderts geschah, und was hinsichtlich aller Arten sowieso und derzeit vielen noch deutlich radikaler geschieht als damals jener Menschheit.

Eine Entwicklung hat eingesetzt: Ein völlig verfilzter, knotiger Faden ist gefunden und kann im Moment vom Knäul ab- und auf zwei ausgestreckte Hände aufgewickelt werden, die sich bewegen wie Weberschiffchen – mal sehen, wann auch er wieder reißt oder/und die Hände sinken.
Und mal sehen, ob vielleicht zuvor oder danach doch noch jener andere Faden zu Ende gestrickt werden kann (auch er in diesem Knäul, aber gut gesponnen: fest und geschmeidig).

Geschafft

190x
Und das ist eine Ranukel wert!

Ein tatsächlich Wunder-volles Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ergangen.

Und meine drei Dauer-DaZel-Wochen liegen hinter mir: Ab Montag ist die mir sehr lieb gewordene Kollegin wieder da; das freut mich heftig. (Und entlastet ungemein, nicht zuletzt weil ich im März mehrfach Vormittagsvertretungen übernommen habe; auch um die vom Bamf gestatteten Abschläge vom offiziellen „Mindesthonorar“ [sic!] wegen der zu niedrigen Teilnehmerzahl in meinen letzten beiden Modulen auszugleichen.)
~ ~ ~

Mit dem Suizid-Urteil hätte ich nie gerechnet. Und schon gar nicht damit, dass das Verfassungsgericht die Aufhebung des unsäglichen Suizid-Verbots, das die rd. 700 Abgeordneten des deutschen Bundestages in all ihrer Selbstüberschätzung über die rund 83 Millionen Menschen in diesem Land verhängt hatten, ausweitet von sogenannten Todkranken auf alle Menschen: ALLE!
Natürlich – und das sieht ja auch Karlsruhe vor – wird diese erstmals hierzulande (höchst-)institutionell anerkannte Freiheit zum Suizid eingehegt werden (müssen) durch Rechtsvorschriften (Fristen, Zwangsberatung etc.). Dennoch handelt es sich bei diesem Urteil um einen Paradigmen-Wechsel:

Eins der letzten, nunmehr 2000 Jahre alten Joche christlicher Knechtschaft ist verwittert und uns jetzt vom Hals gefallen!
Nachdem wir schon seit rund 150 Jahren wissen, dass Gott tot ist, müssen wir uns nun endlich nicht mehr als Spielstein auf dem Mensch-ärgere-Dich-nicht-Brett der Kirchen (also der selbsterklärten Sachwalter Gottes, die bis heute in unsere „säkulare Kultur“ hineinregieren) fühlen, müssen nicht mehr den gesamten Weg über’s Brett passieren, um ins Ziel zu gelangen, sondern dürfen vorher auf einem Punkt unserer Wahl stehenbleiben, umfallen, verwesen, also gänzlich aufhören mit dem Wesensein (und Gewesemachen).  – Und das ab jetzt, ohne von Zügen zermalmt, von Stricken erstickt, von Tabletten zermörsert zu werden, sondern: tatsächlich „sanft entschlafend“!

Nie hätte ich mit einem solchen Urteil gerechnet. Und ich freue mich sehr.

_________
Eher hätte ich damit gerechnet, das mit dem neuen Kurs jetzt zu schaffen – und so zu schaffen, wie ich es nun tatsächlich geschafft habe: gut.
{ Ja. Gut geschafft und gut gemacht, Witwe! }

Würde diese Arbeit anständig statt sittenwidrig bezahlt werden, könnte ich mich mit dem Beruf allmählich sogar ein wenig identifizieren. Solange aber Integrationskurs-Dozentinnen (es sind fast nur Frauen), für die ein akademisches Studium und etwaige Zusatzqualifikationen vorgeschrieben sind, ein Netto-Salär knapp über dem Niveau ungelernter HilfsarbeiterInnen beziehen, werde ich mich mit diesem Beruf nicht identifizieren können (aber ich übe ihn ja auch nur nebenberuflich aus …).
– Das allerdings mindert nicht meine immer wieder vorhandene temporäre Freude an der konkreten Tätigkeit und schon gar nicht mein permanent vorhandenes Verantwortungsgefühl den Menschen in den Kursen gegenüber, die ja für die gesellschaftliche Missachtung nichts können (davon auch meist gar nichts wissen), die auch dieser „Frauen“-Beruf hierzulande erfährt.
Gleichwohl wächst meine Wut: Dass Integrationskurs-Dozentinnen mit etwa 10-15 Euro netto abgespeist werden (inklusive der unbezahlten Vor- und Nachbereitungszeiten, der unbezahlten Krankheitszeiten, der unbezahlten Urlaube), IST SCHLICHT EINE UNFAIRE SAUEREI!

Warum diese unfaire Sauerei aber funktioniert, bis heute funktioniert, habe ich gerade diese Woche wieder im Gespräch mit Kolleginnen erfahren:
„Och, mir ist das mit den Teilnehmerzahlen grad egal, ich hab so viel im Zweitjob um die Ohren [und einen normal verdienenden Mann zu Hause].“
„Nee, das Honorar ist nicht so wichtig für mich, ich hab so viel Spaß an der Arbeit [und einen gut verdienenden Mann an meiner Seite].“
„Ich möcht’ so gern was zurückgeben von dem, was ich selbst hier bekommen habe, da ist mir das mit dem Geld nicht so wichtig [auch hier wieder: normal verdienender Mann im Hintergrund].“

– Mich macht auch das sehr wütend: dieses typische Weibchensein und diese Perspektive, die nicht einen Millimeter über den eigenen Bauchnabel hinaus kommt (‚Bei mir ist das so und so, und es ist mir völlig egal, wie das bei anderen ist, und erst recht, ob es ein strukturelles Problem ist – was ist das überhaupt?!‘)!
Kolleginnen, die keinen normal oder gar gut verdienenden Mann zu Hause haben, äußern sich demgegenüber oft kritisch zur Bamf-Honorarpolitik; aber auch nur oft, und auch dann meist nur verhalten.

Ich bin ein witwesker Eisbär: Ich mag – bis auf wenige Ausnahmen – weder Frauen noch Männer sonderlich; erstere aber finde ich meist noch etwas unangenehmer als letztere. Ob das fair ist, weiß ich nicht: Vielleicht verstehe ich sie nur besser, weil ich mit ihnen mehr zu tun, und vielleicht auch gemein, habe.

Vielleicht das

247 Vielleicht
Heute, nein auch schon wieder gestern oder vorgestern, hatte ich ein Erlebnis, eine Stern-Stunde.
Nein: zwei, ja: gleich zwei!
Mit Menschen. (Nicht mit Sternen.)

Beide Stunden eint von meiner Seite aus Wahrhaftigkeit. Wenn die Situation so ist, dann lege ich die Masken, lege das Eisbärenfell ab und bin als Corinna Laude vorhanden – gehe also das ‚volle‘ Risiko ein – mit mir, »Corinna Laude«, und mit Menschen. (Voraussetzungen dafür? Verschieden. Langsam gewachsenes Vertrauen in den Anderen, oder Selbstvertrauen auf der Basis langjähriger Selbst-Erfahrung, oder beides zusammen. Nie aber Unbedarftheit, Ungestüm, nie etwas zuvor gänzlich Unbedachtes; schade, aber vielleicht ist auch das Altern. – Gleichwohl handelt es sich dann ums volle Risiko: Den Anderen kann ich wie so oft missverstehen. Mich selbst kann ich wie so oft über-, unter- oder gar nicht einschätzen, also letztlich auch vollkommen missverstehen.)

Zweimal binnen 48 Stunden habe ich durch Reaktionen auf mich – also anhand anderer Menschen (und in direktem Kontakt zu ihnen) – erlebt, welche Humanität dem Menschen eigen ist. Welche Zärtlichkeit, welche Zartheit, welche Weite.

Einmal im neuen Kurs. Dem ich aus gegebenem Anlass die menschenverachtende Bamf-/Bundesinnenministerums-Honorarpolitik für Integrationskurse erklärt habe und meinen „Familienstand“.
Und ein zweites Mal dann am Wunder(n)-Ort. Der wird bewohnt von einem Menschen, der diesen Ort, der seiner ist, mit anderen teilt. Er hat mir dort wieder einmal (wie oft eigentlich schon?) das Staunen und mein in-der-Fremde-heimisch-Sein ermöglicht und für das in-mir-fremd-Sein Platz zur Verfügung gestellt – merci!

– Vielleicht das,
die Zartheit, die Zärtlichkeit, die Weite, die dem Menschengeschlecht möglich ist.
Vielleicht das

Blaue Wintersaat an Feldes Rand,
vielleicht ein Blühen am Vers entlang