Politik im Witwesk – oder: Wie den Zerfall von Demokratie einem sagen, der 10 Jahre tot ist?

Eisbär auf Scholle scheitert am Schildern

Seit langem habe ich festgestellt, dass ich dem Lebensmenschen (der nun bald zehn Jahre tot sein wird) auch nicht mehr ansatzweise die Welt würde schildern können.
Nur „schildern“ – vom „Erklären“ muss ich schweigen. (Und vom „Andersmachen“ erst recht, denn das hat im Sinne eines Bessermachens nach Idee oder Parteiprogramm bekanntlich noch nie längerfristig funktioniert.)

Jetzt wäre endgültig die Zeit für meine Bankrotterklärung.
Denn ich bin Demokratin (und ja: Schon seit meinem 15 Lebensjahr weiß ich, dass das naiv und letztlich auch nur eine Bankrotterklärung gegenüber den Tatsachen ist; aber ich bin es bis heute geblieben: ‚Alle staatliche Gewalt geht vom Volke aus‘, und das „Volk“ weiß 1., dass Freiheit immer die Freiheit des Andersdenkenden bedeutet, und 2., dass der Menschheitsevolution neben allem anderen eine starke Tendenz zu Kooperation, Empathie und mithin zu Gerechtigkeit genuin eigen ist).

Als Demokratin ist nun also endgültig die Zeit für meine Bankrotterklärung gekommen:
Regierungen beschließen nunmehr Gesetze und gesetzesanaloge Verordnungen – nicht mehr die dafür in unserer Demokratie ehemals, rechtmäßig und guten Grundes zuständigen Parlamente.
Per Ordre de Mufti der Landesregierung wird aktuell ein Landkreis aus unserer föderalen Demokratie ausgesperrt:
Den Menschen dort ist verboten, auf die Straße zu treten, wenn sie es wollen; ihnen ist es verboten, sich zu politischen Gesprächen zu versammeln; ihnen ist es verboten, Bildungseinrichtungen zu besuchen (auch den Kindern: Bildungseinrichtungen! Den Kindern! Verboten! Nachdem wir durch die Verbote vom Frühjahr bis zum Sommer gelernt haben, was ein solches Bildungsverbot für unzählige Kinder hierzulande heißt! Nachdem wir das gelernt haben!!! Wir Demokraten!).

All das haben alle Menschen in unserer bundesrepublikanischen Demokratie bereits wochenlang und monatelang im Frühjahr diesen Jahres mit sich machen lassen.
Nun beginnt es wieder. Und noch viel selbstherrlicher als damals.

Ich bin sicher, bald wird es nicht mehr eine vereinzelte Ordre de Mufti sein, wie nun von Markus Söder (und geplant von Jens Spahn), sondern viele, und irgendwann wird noch eine Ordre de „Mutti“ von Angela Merkel im Kreise all ihrer föderalen Regierungschefskinderlein kommen, die da lauten wird:
„Sterben verboten!!! Zuwiderhandlungen werden mit regierungsamtlicher Demontage der persönlichen Integrität und/oder mittels Zugriff seitens medialer Disruptoren und virologischer Raptoren und/oder durch staatlich lizensierte internetale Trollzuchtstätten geahndet.“

Das aber geht derzeit demokratietheoretisch noch nicht in diesem Land – Grundgesetz sei dank.
Es wird Zeit, das auch demokratiepraktisch wieder hinzukriegen.

Doch wenn ich das denke, sehe ich den Lebensmenschen vor mir:
Er würde nicht verstehen, was ich ihm über den Status quo der Bundesrepublik, Europas oder gar der Welt zu schildern hätte.
Aber er würde meinen vergeblichen Schilderungen entnehmen, dass sich eigentlich nichts geändert hat.
Die Rückschläge in der Evolution des Homo sapiens werden immer wieder so massiv ausfallen, dass die Gattung aus einem bestimmten Entwicklungsradius nicht herauskommen wird.
Evolutionär ist in solchen Situationen dann nach xhunderttausend oder Millionen Jahren immer eine neue Spezies entstanden.

~ ~ ~
Ich bin froh darüber, durch keine Mutation meines Erbmaterials in Gestalt eines Kindes zur Entwicklung dieser neuen Spezies beigetragen zu haben. Denn sie wird nicht mehr menschlich sein. (Man sieht es bereits jetzt.)
Aber sie wird das zu ihrem Glück nicht mehr wissen.

Sofa kaputt


Schon länger schaue ich zu, wie sich das Leder auflöst.
Nur ab und an, zum Beispiel, wenn ich im Schneidersitz sitze, berühre ich die Stelle mit dem Fuß. Manchmal, selten, schleift mein Oberschenkel im Aufstehen darüber.

Jetzt ist das Sofa dort – und nur dort – kaputt. Das Leder ist seit etwa zwei Jahren an dieser Stelle erst brüchig geworden, nun eingerissen. Nach 23 Jahren.
Die Sitzhälfte des Lebensmenschen hingegen ist völlig intakt; etwas ausgeblichen, aber sonst völlig intakt, das Leder dick und geschmeidig.

Polstereibetriebe habe ich kontaktiert.
Nachdem ich kurz überlegt hatte, ob ich noch ein zweites und letztes Mal ein neues Sofa – doch was ich ästhetisch fein finde, kann ich nicht bezahlen, und will ich nicht erwerben:
Ich habe dieses Sofa allein gekauft, aber da waren der Lebensmensch und ich schon in ein gemeinsames Leben über unser beider Leben hinaus verwoben; und: Er hat unzählige Male darauf gesessen. Auf der Seite, die unversehrt ist, nur mittlerweile sehr blass geworden.

~
Eine Polsterei schlug vor, die defekte Sitzfläche durch einen Teil vom Sofarücken zu ersetzen.

Ich werde es nicht ersetzen lassen, weil es keinen Ersatz gibt für meine Lebensspur.

Ich werde ein neues Stück Leder in dieses Sofa einflicken lassen. Die Sitzfläche wird dann eine neue, etwas andere Farbe haben und eine neue Textur.
Es ist mein Sofa. Ich habe es allein gekauft. Ich habe es überwiegend allein besessen: von den 23 Jahren hat es der Lebensmensch ‚tagtäglich‘ nur fünf Jahre lang mit mir geteilt (zuvor war Fernbeziehung und danach der Krebs).
Und er wird bekanntlich nie wieder darauf sitzen.
Dabei ist seine Seite doch völlig intakt, das Leder dick und geschmeidig, nur verblichen.
{Vielleicht ist das Training für den Matratzenneuerwerb, der seit Jahren mehr als fällig ist?
Denn im Witwesk gilt: Nie ist ein Ersatz möglich. Immer gibt es – wenn überhaupt – nur das Neue. Und das muss weitgehend Flickwerk bleiben.
}

Witwesker Ressourcenauf/sbau – ausgerechnet heute

Ressourcen
Gestern Abend, also vor wenigen Stunden, war ich mit der ersten Freikarte, die ich überhaupt je in meinen zwei Leben geschenkt bekommen habe, in einem Konzert.
Weil ich zweimal ein Abo der Bismarck-Oper für die billigsten Plätze gekauft habe (und es ein weiteres Mal in diesem Jahr vergeblich zu erwerben versuchte), habe ich dieses Geschenk erhalten. (Mit einem Kalkül übrigens, das aufging: Ich habe nun die ermäßigte Saison-„Card“ und bereits zwei Tickets für dieses Jahr noch gekauft …; leider aber kam ich für die billigen Karten zur Walküre zu spät.)

Diese Freikarte gab es für einen „Liederabend“. Und der war eine sehr interessante Erfahrung für mich Musik-Kretin.
Zwei Menschen am Flügel begleiteten die Sänger*innen – und ich hatte den Eindruck, einmal Zeugin des mechanischen Notenabspielens während einer Probe von Ballettelevinnen zu sein und einmal dem virtuosen Durchleben eines jeden Tones und seines Zusammenhangs mit allen anderen auf dem Notenblatt und als Klang in der Luft beizuwohnen.
Ich hatte bei manchen Sängern (ja: allein bei den Jungs) den Eindruck, dass eine tolle Stimme, wenn sie nur laut ist, alles verliert, und dass Lautstärkemodulationen nichts helfen, wenn die Stimme sich immer gleich bleibt.
Und bei den Sängerinnen hatte ich den Eindruck, dass auch da riesige Unterschiede trotz geteilter Disziplin durchs Detail gegeben sind: Wer sich nichts traut, bleibt flach, klein, quadratisch. Wer Mut hat zum Registerwechsel und dem Risiko, übers Ziel hinauszuschießen (einem Risiko, das sich jederzeit in eine neue, fernere Ziellinie transformieren kann, sofern – ja: genau: Glück&Mut/Mut&Glück), wird hingegen ungemein hörbar.

– Um all das für die einzelnen Künster*innen und ihre gestrige Darbietung behaupten zu können, fehlt es mir natürlich vollkommen an jeder Expertise. (Und damit logischerweise auch gänzlich am Vokabular oder eher: an der Terminologie.)
Aber mir wird das immer gleichgültiger.
Ich hör’, was ich hör’. (Und ich höre mehr als noch vor einem Jahr.)

Und – ja: Das freut mich! {Oha! Die Witwe freut was – ausgerechnet heute!}
Und es macht mir Spaß, lebendig/‚live‘ gespielter und gesungener Musik zuzuhören. Es macht mir Spaß, dabei Unterschiede zu entdecken. Und es macht mir Spaß, all das auf meine Weise für mich zu benennen. {Huijuijui: Der Witwe macht was Spaß – ausgerechnet heute!}

Dass die Magie einer musikalischen Aufführung (sogenannter klassischer Musik), bei der ich Zeuge sein darf, für mich darin besteht, dass dort – im Ton, dem ich beiwohne {jaja: „beiwohne“, denn natürlich hat das etwas Libidinöses, gar etwas Erotisches} – Vergänglichkeit und Ewigkeit zusammenfallen, habe ich mindestens schon einmal hier zu sagen versucht.
Dass ich nun langsam sicherer werde in meinem Geschmacksurteil, weil ich mit meinen ungeschulten Ohren Unterschiede höre und sie für mich mit meinen unmusikalischen Worten ausdrücken kann – das freut mich.
Nicht zuletzt auch, weil es mich neugierig macht auf weitere Hör-Erfahrungen. {Jaja: die alte Lern- und damit Lebensgier; tatsächlich. – Ausgerechnet heute so klar.}

~
Gestern Vormittag habe ich eine am Vortag spontan erbetene Integrationskursvertretung durchgeführt. Vorgestern Nachmittag habe ich die etwa eine gute (und leider wie immer unbezahlte) Stunde lang vorbereitet. Im Unterricht waren wir streikbedingt zunächst sechs Personen, dann nur noch zu dritt. Die Gruppe kenne ich von diversen Vertretungen: sehr nett, sehr kommunikationsfreudig und partiell auch sehr fit. Nunmehr sind sie in der Prüfungsvorbereitungsphase, und auch gestern haben wir dementsprechend etwas geübt, das immer von allen Prüfungsteilen fast am meisten Angst macht. Alle haben das gut bis sehr gut bewältigt.
Einer Teilnehmerin stiegen Tränen in die Augen, als ich ihr das sagte.
– Darüber wären mehrere Beiträge hier fällig.
Heute nur dies:
Auch das war ein Moment, in dem ich das Zusammenfallen von Vergänglichkeit und Ewigkeit spürte. (Wie durchaus öfter mal in diesen Deutsch-Kursen – und früher in meinen 15 Dozentinnen-Jahren als Altgermanistin an der Uni auf dem Weg zur Professur so gut wie nie; aber das mag seine Gründe auch allein in mir oder der Institution haben und vielleicht nicht in der Tätigkeit.)

Das Erleben dieser Momente schüttelt ein Kissen auf und lässt gleichzeitig seine Daunen überhaupt erst sprießen.
In der Psychologie nennt man das irgendwas mit „Ressourcen“.
Ich lege meinen Kopf darauf. Und weiß um die Träume, derer ich mir doch nie sicher sein kann.

– Ausgerechnet heute:

Hochzeitstag

Ich möchte aus der Haut perlen,
möchte aus meinen Augen laufen,
mich in Deine Blicke tröpfeln
und unter Deine Lider gießen.

Ich möchte aus der Spur schlagen,
möchte aus meinen Zehen wachsen,
mich unter Deine Sohle flechten
und in Deinem Schritt mich wiegen.

Wie vor Jahr und Tag,
fast noch sommerlich,
warm das Licht, gesagt,

uns das Wort gesagt,
noch ganz herbstzeitlos
– vor Jahr und Tag.

(10.10.2012)

(© Corinna Laude, aus „Nullsamkeit“)

Bodycheck

Wenn alles gut läuft, treffen wir uns einmal im Jahr (wenn nicht, dann öfter). Und es liegt ja auch immer irgendetwas an, das Mülltonnen-Problem oder die Hofbegrünung zum Beispiel (wenn’s schlecht läuft, dann auch wieder Unsummen, die ein jeder von uns aufbringen muss).

Dabei sind immer etwa sechs oder sieben Paare (meist nur einteilig vertreten) und noch ein, zwei, drei andere, darunter ich.
Die Paare sind bis auf eines, das deutlich jünger ist, in unserem Alter – dem des Lebensmenschen und mir. Alle haben Kinder, mehrere. Und alle sind studiert oder anderweitig saturiert, alle sind Ärzte, selbständigflorierende Architekten & Ingenieure, leitende Beamte oder anderweitig Chefs, zum Teil auch gewesen.

Immer, wenn wir uns treffen (und das müssen wir einmal im Jahr), erlebe ich einen Bodycheck:
Schultern und Hüften rempeln mich an und bügeln dann über mich hinweg. – Ganz ohne Arg: Die dazugehörigen Körper laufen einfach durch ihren Lebensraum.
Dass so eine wie ich ihn ab und an mal mit ihnen teilen muss, nehmen die nicht wahr.

Heute klagten sie darüber, dass sie nicht den wie üblich geplanten jährlichen Viert- bis Fünfturlaub machen dürfen, weil die Corona-Regeln sich doch jetzt grad wieder geändert hätten; heute klagten sie darüber, dass man den Hof ja gar nicht mehr nutzen könne, weil die auf ihrem Mist gewachsenen Baumaßnahmen aus dem ein Trümmerfeld gemacht hätten; heute warfen sie im Geiste mit unser aller Geld um sich, weil sie von dem offenbar so viel scheffeln, dass ihnen gar nicht mehr klar ist,
dass hier Menschen leben.
Menschen also.
Die sehr viel weniger als sie an Einkünften haben.
Ich zum Beispiel. – Aber Halt: Ich bin ja ein witwesker Eisbär.

Heute war das ein harter Bodycheck: Mir ist wieder deutlich geworden, dass mich mittlerweile fast alles von den Menschen, jedenfalls denjenigen, die sich selbst dafür halten, trennt

und unterscheidet.

„Deppich“,


so sagt man in der Südpfalz zu einer Decke, einem Plaid.
Freilich gibt es dort auch eine ganz besondere Art von Decken (nie habe ich sie zuvor oder seither irgendwo gesehen): Sie sehen tatsächlich aus wie ein Orient-Teppich, funktionieren aber wie eine Decke.
Einmal, wenige Wochen vor dem Tod, lag der Lebensmensch darunter, auf einer Couch, die es schon lange nicht mehr gibt, in einem Haus, das es nun – wie ich zufällig erfuhr – für seine Bewohner auch nicht mehr gibt. (Die Telefonnummer habe ich jetzt gelöscht.)

Als die Tante gestorben war, da vor ein paar Jahren, wurde ich gefragt, ob ich etwas von ihr haben möchte. Ich habe eine Orchidee samt Topf und ein Sedum samt Erde mitgenommen; beide leben noch, wenn auch kleiner geworden und weitgehend blütenlos. Gern hätte ich auch einen ihrer „Deppiche“ mitgenommen (nein, unter keinem von ihnen habe ich den Lebensmenschen je liegen sehen), doch das fand ich unangenmessen, denn es gab Verwandte, denen das im Gegensatz zu mir zustand.

Als ich in diesem Jahr endlich eine richtige Decke kaufte, musste ich an die Deppiche der Palz denken. (Wie gesagt: So etwas wie dort habe ich nie wieder gesehen.)

~
Und jetzt weiß ich, was sich geändert hat.
Es ist kein Schwarzer Sturm mehr, der über mich kommt.
Es ist ein Deppich, der sich über mich legt: schwer, dicht, nicht wirklich anschmiegsam, aber dennoch weich – ein Deppich halt, nur ohne Farben.

Nun fängt also das an: „Ich bin Corona-Überlebende/r“

[Ganz klar bilderlos.]

Neuerdings beginnen sich in der Presse solche Stories zu häufen.
Menschen im letzten Lebensdrittel, also ab 50 Jahren, übergewichtig, entsprechend hypertonisch, blutgefäßgeschädigt, stoffwechselbeeinträchtigt et cetera, berichten: „Ich bin ein/e Corona-Überlebende/r! Und mir geht’s immer noch so dreckig …“

Und dann erzählen sie:
Von Lagerungsstauchungen und Katheterlegungsunfällen über Anästhesie-Delirien und Neuropathien bis hin zu Depressionen, Flashbacks und Fatigue-Syndromen.

Ich möchte denen zurufen:
„Willkommen! Was Sie jetzt erlebt haben und noch erleben, das erleben allein hierzulande zigtausende von Menschen alljährlich. Sie nennen diese Menschen zum Beispiel ‚Krebskranke‘; viele davon sind viel jünger als Sie. Die alle, all diese Menschen, die Sie zum Beispiel ‚krebskrank‘ nennen, erleben genau das: Von einem Tag zum andern Totalausstieg aus dem Leben – Traumatisierung durch Ärzte/innen und medizinisches Personal – körperliche und psychische Schwerstversehrung – Verlust aller (immer schon nur eingebildeten) Sicherheit und Verlässlichkeit, zum Beispiel des eigenen Körpers. – Willkommen also nochmals im Club! Dem Sie selbst übrigens immer jedes Recht auf Erzählen verweigert haben und verweigern.“

Die Presse ist nun allmählich voll von diesen „Ohmygoodness – ich bin Corona-Überlebende/r-und-es-war-und-ist-schrecklich“-Berichten dieser übergewichtigen und/oder diabetes2kranken und/oder über 50-jährigen mit schwerem Covid-19-Verlauf.

All diese Menschen mit hierzulande schwerem Covid-19-Verlauf (sind’s 0,1% oder 0,5% der Infizierten, und wer weiß, wie viele infiziert sind?), die in der Presse neuerdings vom Schwerstverlauf ihrer Covid-19-Erkrankung erzählen (still: panic sells), sind ökonomisch abgesichert und erwarten offenbar als völlig selbstverständlich, das statistische Durchschnittsalter von rund 85 Lebensjahren zu erreichen, derweil hinreichend glücklich zu sein und ihre Enkel aufwachsen zu sehen.
(Denn das erwarten doch alle, nicht wahr: Mindestens 85 zu werden, derweil hinreichend glücklich zu sein und die Enkel aufwachsen zu sehen.)

Aber wenn diese Covid-19-Schwerstverlauf-Ex-PatientInnen dann ihre Story erzählen, erwarten die noch mehr:
Sie erwarten, dass alle Rücksicht nehmen sollen auf solche wie sie: im letzten Lebensdrittel, vorerkrankt, und blind gegenüber der sinnvollen Tatsache, dass der Tod jederzeit jeden nehmen kann und auch immer wieder nimmt.

Und wenn ich daran denke, möchte ich denen (und überhaupt allen mit ‚Erwartungen ans Leben‘) sagen:
Werte Ex-Covid-19-Schwerst-Erkrankte: Hören Sie bitte auf, von der Gattung Mensch zu verlangen, dass sie sich Ihretwegen und um Ihres zivilisationskrankheitsgeschwächten Körpers willen weiterhin in dieser finstersten ZIVILISATIONSFERNE der absoluten TODESVERLEUGNUNG aufhält!
Denn nichts anderes sind unsere Corona-‚Maßnahmen‘: zwanghafteste Todesverleugnung.

– ‚Maßnahmen‘ übrigens, die bereits jetzt unzähligen Menschen weltweit den Tod gebracht haben, weil unsere Medikamente seit unserem Lockdown dort nicht mehr ankommen und weil etwa 80 Prozent der Weltbevölkerung kein Kurzarbeitergeld beantragen kann.“

~ ~ ~
So. Hab ich jetzt mal gesagt.
{ Und ob ich es ins Witwesk sage, in einem Gedicht oder in den Bundestag, ist einerlei. }

Bleibt

die Leere, das was nicht zu sagen ist.

Neuerdings also wieder öfter Doppelbilder:
Das Sofa heute mit den Kissen auf den Armlehnen und den Pflanzen auf dem Fensterbrett – und dann der Lebensmensch darauf, als es weder diese Kissen noch diese Pflanzen dort gab.
Die Kücheninsel heute mit dem Ordner „Im Todesfall“ – und dann der Lebensmensch davor, ich von ihm darauf gehoben und wir im Begriff, zum Kugelmenschen zu werden.
Die Dusche heute hinter dem Fischvorhang – und dann hinter ganz tiefem Orange der Lebensmensch darin, fröhlich.

Neuerdings, nach längerer Zeit, also wieder Doppelbilder. Keine „Psycho“-Dingens, keine „Flashbacks“, keine „Intrusionen“ – einfach Erinnerungen, die sich in die Wirklichkeit schieben und sie ein wenig erschüttern.

Das tut tief weh.
Wie immer.
(Wann wird es hinreichend tief sein?)

Und wenn das der „Kern“ wäre,

dann wäre er gleichwohl leer.
Denn er (und mit ihm seine Mitte) würde verpuffen, verdampfen, noch während er anfinge, sich in die Existenz zu schälen.
Wie ein jeder Ton, der gesungen oder der durch ein Musikinstrument erzeugt wird.
Schon im Entstehen verpufft, verdampft er wieder.

Es bleibt die Leere. Die nicht zu sagen ist.
)Nur die Liebe tänzelt darüber hinweg, da oben das Seil, das immer schon grad reißt.(

Aidas Arie – oder: Mehr als nichts!


Heute (nein, schon wieder gestern) in der Deutschen Oper hörte ich – skeptisch ob des Nummern-Revue-Titels – „Aida“ als coronabedingtes ‚Best of‘. [Meine erste Oper unter Corona. – So, wie’s nun aussieht, werde ich mir wohl diese blöde „card“ kaufen … Zumal diese ‚Best ofs nunmehr wieder verschwunden sind.]
Christina Nilsson, grad mal 30 Jahre alt, sang die Aida und damit eben auch „O patria mia“, die wohl schwierigste Arie dieser Oper (und ja: dort geht es um Heimat, und wie immer handelt es sich dabei nicht um Nation, nicht um Land, nicht um Volk).

Jetzt höre ich die Callas und auch Leontyne Price sowie Renata Tebaldi auf Youtube hoch und runter, und ich weiß nicht: Liegt’s am Konserven-Malus, oder war das da vorhin in der Bismarck-Oper tatsächlich eine Sternstunde? – Und: Ist das überhaupt von Belang?

Mir war das ein Sternstunden-Moment. Er haftet mir an. Und ging vorhin da im Opernhaus in mich ein. Hautreaktion – Atemfrequenzwechsel – höchste Konzentration – und jenes Je ne sais quoi, das mir in Aufführungen klassischer Musik so oft passiert.

Vielleicht ist es das?
Des Menschen Fähigkeit, zugleich als vollkommenes Geistwesen und in massivster Körperlichkeit vorhanden zu sein wie diese Aida-Sängerin(nen), ~ ~ ~ und ihre ZuhörerInnen.
Für einen Moment.
Womöglich ist das der „Kern“?

Im Funktionsmodus. Hinten Blaues Rauschen: Nullsamkeit

Geschirr und Bettbezüge, Kleider und Konzerte – große Freuden, kleine Fluchten. Hübsch.
Unzureichend.
Das merke ich im Witwesk immer irgendwann, zum Beispiel, wenn ich im Funktionsmodus bin (wie jetzt: eine Woche Dauer-DaZeln inklusive Vormittagsvertretungen, die mir eine Nachtruhe von ca. 5 Stunden einbringen).

Das klimpert alles so dahin. Große Freuden, kleine Fluchten. Hübsch.
Unzureichend.

Im Kern ist das Fehlen. Doch dieser Satz ist eine Lüge. Es gibt für das, was nicht da ist, auch kein Wort.
Im Kern fehlt etwas. Vielleicht aber fehlt auch gar nichts im Kern, sondern schlicht der Kern.

Alles ist „weggebrochen“. Liebe, Beruf, Kontakt (der nur beinahe ganz), Leben (nochmals: Ich müsste tot sein, niemand konnte damals erklären, warum ich das nicht war; und mehr noch: Wäre der Bruder lebend geboren worden, hätte ich nie sein müssen).
Aber wovon eigentlich weggebrochen?

Es fühlt sich so an, als FEHLT etwas. Aber vielleicht ist es NICHT DA (und auch nirgends sonst), nie.
– Kann dann das Gefühl „Fehlen&Vermissen“ vorhanden sein? Weiß irgendjemand, wie sich das Gefühl „Fehlen&Vermissen“ anfühlt? Wenn ja, kann er es sagen? Wenn ja, kann es sein, dass es dabei immer nur um Hunger, Durst und Frieren geht und dass sonst nichts fehlen kann, weil nie mehr da war und da ist?
Kann es sein, dass alles Andere (Geschirr, Bettbezüge, Kleider, Konzerte, Liebe, Beruf, Kontakt und was dergleichen noch mehr sein mag) sich um Nichts herum gruppiert, sich Nichts anlagert? (Und wenn das so wäre, dann würde es nie zu einer Anhaftung kommen, dann würde alles Andere immer ins Leere fallen, sowohl nach „innen“ als auch nach „außen“.)

~ ~ ~
Bis heute habe ich „Jenseits des Lustprinzips“ nicht zu Ende gelesen. Aber immer war ein bläulicher Schatten: im letzten Drittel des Moments, am Ende der Seite und des Weges, über jedem Anfang.
Seit zehn Jahren mindestens hat der Schatten eine geometrisch geordnete Struktur, denn es handelt sich nicht um Stimmungswolken oder Gefühlswogen.
Seit zehn Jahren mindestens weiß ich, dass niemand und nichts den Schatten schlägt.
Er fällt einfach auf die Existenz.