Noch einmal Corona – in Zahlen, ohne Bilder

Eine Studie über Gütersloh/Tönnies, über die die FAZ berichtet (https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/was-wurde-aus-dem-corona-ausbruch-in-guetersloh-16901964.html):

2100 Corona-Infektionen (oder 1712 – worauf sich die folgende Zahl bezieht, wird in dem Artikel leider nicht klar).
43 davon im Krankenhaus gewesen.
Davon 27 „ernsthaft erkrankt“ – jedenfalls laut eigenem Bekunden (von medizinischen Diagnosen ist in dem FAZ-Artikel nur teilweise die Rede; und: Klar – Angst vor Atemnot MACHT Atemnot).
Keiner beatmet.
Keiner gestorben.

Und deshalb haben wir Milliarden von Menschen weltweit die Existenzgrundlage entzogen und/oder werden sie in die Armut schicken, Millionen auch hierzulande.

Ich leugne nicht die zigtausend Toten in den USA, in Brasilien, in Spanien, in Italien und andernorts.
Die meisten dieser Toten sind alt geworden.
Die meisten dieser Toten waren schon vor der Corona-Infektion krank, oft schwer krank.
Die meisten dieser Toten hatten keine Krankenversicherung und haben bis zum Letzten gewartet, bevor sie – wenn überhaupt – medizinische Hilfe suchten.
Manche dieser Toten sind jung gestorben.

Ich erinnere daran:
Die Menschen sterben. Und das ist gut so.
Sie sterben in den ehemals sogenannten Industrieländern durchschnittlich so ab 80 – wie nun fast alle Corona-Toten.
Manche sterben weit früher – wie nun auch ein paar Corona-Tote.

Ich erinnere daran: Das Leben ist tödlich. Und das ist gut so.
Jetzt in Corona-Zeiten hat man hierzulande alles – ALLES – dafür getan, das vergessen zu können.
Man hat die Sterbenden allein krepieren lassen, indem man ihnen verboten hat, Besuch zu bekommen. Man hat den Krebskranken verboten, sich behandeln zu lassen. Man hat die Dementen tödlich isoliert, indem man ihnen verboten hat, am Leben teilzunehmen. Man hat die HIV-Infizierten in Afrika nicht mehr mit Medikamenten versorgt und kein Wort darüber verloren, so dass eine halbe Million mehr als üblich von ihnen sterben wird. Man hat den Kapitalismus, der sonst doch hochheilig ist, abgeschafft und mit Bürgergeld=Steuern um sich geworfen, um die kapitalismusrelevanten Branchen zu pimpern und den anderen ein paar Brosamen hinzustreuen, bestenfalls in die Augen.
Und all das, weil man den Tod nicht ertragen kann.
Der übrigens jetzt, in Zeiten von Corona, so arbeitet wie vorher: Er kommt zu den Alten, er kommt zu den Kranken. Und manchmal kommt er auch zu den jungen Gesunden.
Und er hat nichts gemein mit dem Pest-Tod und nichts mit dem der Spanischen Grippe, nichts!
Aber wir haben ihn benutzt, um Milliarden von Menschen in den Tod zu treiben (die nun schon gestorben sind und die noch sterben werden – wohlgemerkt: nicht an oder auch nur mit Corona) – nur weil wir so entsetzliche Angst vor dem Tod haben.

Meingott, was ekelt mich dieses Menschenpack

Die ganze Menagerie ist im Sommer

273 Sommer
Nun ist er doch noch gekommen: der Sommer, nachdem Juni und Juli eher kühl, trüb und wie halt irgendwas waren. – Jetzt ist er doch da: der Sommer.
Und die ganze Schollen-Menagerie ist drin: vom gefiederten Gesellen über her majesty bis hin zum größten an Land lebenden Raubtier, sogar der Mitbewohner – alle tief im Sommer!
Ein jedes von ihnen schwitzt anders. Aber alle fühlen: Jetzt ist Sommer. Und ein jedes weiß: Noch strömt es hell und warm aus der Zeit, noch.
{Und ein jedes stoppt irgendwann den Gedanken an das, was wieder kommen wird.
Noch strömen Licht und Wärme aus der Zeit!}

Dass ich dankbar bin für diese Menagerie, habe ich noch nie gesagt, vermutlich auch noch nie zu Ende gedacht.
Ich bin dankbar der mir manchmal auf der Schulter sitzende Krähe, bin Löwidow dankbar, dem witwesken Eisbären und erstrecht dem zugezogenen Mitbewohner.
Wir teilen uns die Scholle, das Witwesk. Wir bewegen uns auf dem, was ist. Ein jedes auf seine Weise. Jeden Tag wieder.
Und ich bin gottverdammt froh drum, dass ich teilen kann, dass ich das alles auf alle aufteilen kann.

Jetzt teilen wir den Sommer, teilen Helligkeit und Wärme.
Schwitzen aber tut ein jedes auf seine Weise.
(Und alles, was zu tun ist, was wirklich gemacht werden muss, obliegt weiterhin allein mir. – Das war schon immer so; auch damals, als ganz Andere ständig Teilungsansprüche anmeldeten.
Gut, dass ich jetzt weiß: Ich kann es einfach bleiben lassen; alles.)

Ich nehme das nicht persönlich.

272 Neues Geschirr
Nö, mach ich nicht! Ich bin ja keine Psychotikerin – die nehmen die ganze Welt persönlich und denken (und fordern), dass sich alles nur um sie drehen würde.
Mir ist heute einfach nur der neue Drucker nach anderthalb Jahren kaputt gegangen. – Jetzt, nachdem ich gestern, am Freitag, tatsächlich auch das alte Geschirr ausgeräumt habe, um dem neuen Platz zu machen.
Denn ja: Ich habe es tatsächlich erworben! Das neue Geschirr. Mein Gesamtlebens Zweites nach dem „Rondo“ von Ikea. (Diesmal allerdings ‚nur‘ für 6, nicht für 8.)

Habe es erworben im Schweiße meines Angesichts:
Zwei Stunden lang in einer Kreuzberger Fabrikhalle habe ich die 14 Teile bei etwa 33 Grad erst zusammengesucht, dann zum Bus, von dort in die U-Bahn und schließlich nach Hause geschleppt, im Geschirrspüler verstaut und danach auf dem Esstisch verteilt – in immer wieder wechselnden Kombinationen (denn: alles passt zusammen und ein jedes sieht doch anders aus!).
Und ich habe mich daran erfreut!

Obwohl ich vermutlich niemals mehr in eine Situation kommen werde, in der ich auch nur vier der sechs Gedecke gleichzeitig auf dem Tisch haben werde, weil keine vier Personen hier mehr gleichzeitig essen werden.

Ich habe mich daran erfreut!
Und ich erfreue mich daran.
Weil ich jetzt – nach all diesen Jahrzehnten in Weiß – immer einen anderen Teller aus dem Set wählen kann: mal den ein wenig mintfarbenen, mal den mit mehr Türkis, mal den dünenfarbigen, mal den, in dem der Atlantik schillert, mal den, der ist wie ein Sandboden unter flachen Meereswellen, oder mal den mit dem Abendhimmel kurz nach Sonnenuntergang nördlich von Lissabon. Und mal in groß und mal in klein – und mal als Schälchen! (Und meinen Salat gibt’s künftig aus einem Sonnenauf- oder einem Schnorchelgang an Felsenküste.)

Und dass heute der nur knapp anderthalb Jahre alte Drucker kaputt gegangen ist, das ist einfach nur ein bedeutungsloser Zufall, keine Bestrafung dafür, dass ich nun Geld für dieses Geschirr ausgegeben habe. Ja! Einfach nur ein Zufall.

~
Und wahrlich: Dieses Geschirr ist schön und macht Spaß!
Mir. Ganz allein mir, ganz ohne Gedeck für zwei, für vier, erst recht ohne „große Tafel“ (von denen es in Leben Nr. 1 – uns jeweils gemäß – nur selten eine gab).

Gestern gab’s Käsebrot auf Sonnenaufgang, heute Mittag extra gesalzene Bauerngurken auf Gischt. Morgen wird vermutlich ein Melonentag auf einer Sandbank sein. Und abends gibt es dann vielleicht eine Caprese in der blauen Grotte.
Alles auf meiner Tafel. Ohne Buchung, ohne Flug, ohne Hotel. Alles einfach auf meiner Tafel.

Und ganz allein für mich. (Und nicht zuletzt durch mich. – Darüber wäre vielleicht mal genauer nachzudenken.)

Ausräumen

271 Ausräumen

Bald – in fast drei Monaten – werden wir zehn Jahre tot sein.
Das beschäftigt mich.
(Und wenn jetzt wieder einmal jemand das Offensichtliche sagt, nämlich, dass ich doch gar nicht tot sei, dann werde ich ihm wieder einmal erklären, dass vor zehn Jahren diejenige, die ich damals nach Langem und durchaus einigen Mühen endlich zu werden im Begriffe war, genauso gestorben ist wie der Lebensmensch, nur dass ihm obendrein auch noch physisch der Tod beschert ward.)

Ich räume aus.

Schon lange, seit Jahren, immer wieder mal.
Die falschen Vertrauten, die damals schon längst keine mehr waren, als erstes. Als zweites dann aus blanker finanzieller Not unsere Arbeitszimmer. All die falschen Freunde über Jahre hin. Meinen Kleiderschrank mit all diesen Uni-Klamotten seit diesem Frühjahr. Nunmehr vielleicht auch unser Geschirr, das, bevor es unsers wurde, lange Jahre zuvor mein Geschirr gewesen war (nur damit keine falschen Vorstellungen aufkommen: „Rondo“ von Ikea, aber immerhin für 8 Personen) . Alte Mails (von den falschen Freunden und den genauso verlogenen Bekannten).
Und auch jene Mördergrube in meinem Herzen, in die ich eine Ex des Lebensmenschen gesteckt habe, die – nach Ewigkeiten ohne Besuch – drei Wochen vor seinem Tod noch einmal bei uns aufkreuzte, und die – eine Ärztin – sich bis heute trotz meiner etlichen Anfragen weigert, mir zu sagen, was sie dem Lebensmenschen damals erzählte, das ihn dann mitveranlasste, alle Hoffnung endgültig fahren zu lassen, denn nach deren Besuch ging nichts mehr von dem, was zuvor noch einigermaßen gegangen war (essen, schlafen, lesen, denken, Schmerzen aushalten, Hoffnung haben)
– sogar diese Mördergrube in meinem Herzen versuche ich auszuräumen: Eine Korrelation ist nicht zwangsläufig eine Kausalität! {Und wenn in diesem Falle doch, dann hätte sie damals dank ihrer Position in seinem Leben und in ihrem ihm womöglich einen Herzenswunsch erfüllt, was mich dankbar machen würde. Und wozu ich damals aufgrund meiner Position in seinem Leben und in meinem Leben nicht instandgesetzt gewesen wäre. – Doch das ist alles nicht zu wissen.}

Wenn ich Glück habe, wird sie leer bleiben, die Mördergrube in meinem Herzen.
Aber bleiben wird sie.

Leer geblieben ist übrigens vieles, seitdem ich ausräume. Vieles, das zum Zentrum gehört, welches selbst ja seit bald zehn Jahren vollkommen leer ist. *
Die Peripherie konnte und kann ich – immer wieder zu meinem Erstaunen – neu füllen: Die einstigen Arbeitszimmer mit einer Mieterin oder einem Mieter (alles sehr nette Menschen, da hatte ich ein Riesenglück bisher); den Kleiderschrank mit neuer Garderobe; jetzt vielleicht die dann erst noch zu schaffende Lücke vom alten Geschirr durch ein neues.

Mich wundert nicht, dass ich materialiter fülle. Es geht nur um die Peripherie. (Doch was heißt da „nur“? Ich habe auf meiner Eisscholle sechs, sieben Jahre lang wie Gregor auf dem Stein existiert.)
Das Zentrum bleibt leer.

* – Und nur damit erneut keine falschen Vorstellungen aufkommen: Allmählich findet der Gedanke in mir Platz, dass das Zentrum immer leer ist.
Ich weiß und wusste stets, dass nicht ich das Zentrum bin und dass nicht der Lebensmensch das Zentrum ist: Wir haben acht Jahre lang eine 750 Kilometer-Fernbeziehung in inniger Liebe und durchdringender wissenschaftlicher Neugier gelebt.
Im Krebs sind wir beide gemeinsam dann 15 Monate lang zu etwas geworden, das ich für das Zentrum hielt. Denn es musste da leider von Anfang an ein GEGEN her – gegen alle und alles.
Und mit ungeheurer Intensität. Mit ungeheuerlicher Intensität. Mit Supernova-Intensität (– sorry, aber die glüht mich bis heute ein paar Grad weit ins Leben).
So etwas kann irrtümlich durchaus für ein Zentrum gehalten werden. Mir jedenfalls ist das passiert.

Erst langsam lerne ich: Wenn man so irrsinnig gegen alle und alles kämpfen muss, wird man kein Zentrum, denn dann muss man darauf bedacht sein, von allen und allem abzuprallen. (Das war damals überlebensnotwendig. Andernfalls hätten wir keine drei Wochen überlebt. Und dass wir die überlebten, ist im Rückblick sinnlos: Die 15 Monate, die wir dann insgesamt überlebten, waren eine Wanderung durch eine Art Hölle.
Diese aber hatte immerhin ein Ende.)

Erst langsam erinnere ich mich:
Das Zentrum ist immer leer. Seit Menschengedenken.
Vielleicht, damit die Menschen Platz zum Denken haben.

PS:
Ich habe vorgestern nicht daran gedacht, dass da vor elf Jahren die erste Diagnose kam. (So, wie ich in den letzten Jahren mehrfach schon mehrere der Krebs-Daten – und sogar einige der Liebestage – vergessen habe.)
Ich weiß, dass ich nicht vergessen kann, wie das war damals: die erste Diagnose. Und wie das, was darauf folgte, war.
Aber wenn ich anfangen kann, nicht mehr am Datum daran zu denken, dann ist vielleicht irgendwann meine Lebenswelt soweit ausgeräumt, dass das Denken selbst wieder Platz findet.
Und Denken ist alles: Phantasie, Analyse, Deduktion, Experiment, Traum, Abstraktion, Zweifel, Induktion, Rück- und Rundweg, Synthese, Ausfallschritt, Versuch, Tanz und
ist
ohne Fühlen nicht möglich.

Nochmals: Ich weiß nicht, wie „das“ ist!

270 Nochmal Nein!

Der Tod – also das Sterben und die Trauer sind immer anders.
Im Vergleich zum Leben hierzulande jedenfalls erscheinen sie mir sehr viel unterschiedlicher.

Diejenigen freilich, die damit bisher nur aus der Ferne – sei es der familären oder freundschaftlichen oder gar nur aus der Ferne gedanklicher Abstraktion – zu tun hatten, die sehen nur, wie sehr sich Särge, Urnen und Grabstellen gleichen, und denken vielleicht deshalb, dass auch das Sterben und der Tod immer gleich erlebt würden: ‚Kennst du eins, kennst du alle.‘

Doch wenn mir jetzt noch einmal anlässlich des aktuellen Todesfalles im Hause einer der Nachbarn sagt: „Du weißt ja, wie das ist“, werde ich endlich (hat ja ein paar Wochen gedauert) lachen und sagen können, was ist:
NEIN, ich weiß es nicht. Denn dieses Sterben, dieser Tod und diese Trauer sind vollkommen anders als das, was wir und dann ich erlebt haben und was ich bis heute erlebe.

Und ich werde den Nachbarn – falls mir irgendeiner von denen noch einmal sagt, dass ich das ja alles kennte – sagen: Okay, für euch ist der Tod nun zehn Jahre näher gerückt, vielleicht seid ihr deshalb jetzt so ‚betroffen‘; oder ihr denkt, dass 70jährige Witwer im Gegensatz zu 40jährigen Witwen eingekauft bekommen und bekocht werden müssen. Denn vor zehn Jahren habt ihr noch kein Wort, keine Geste, keine Lebensmitteltüte an der Tür zum verwitweten Haushalt deponiert. (Und ich hätte all das damals euch vermutlich freundlich und bestimmt vor eure Tür zurückgestellt. Aber ihr habt es nie versucht. Also: Wer weiß.)
Wahrscheinlich aber liegt das alles einfach nur daran, dass zehn Jahre vergangen sind, und dass damit der Tod euch ein wenig – natürlich nur ein ganz kleinklein wenig – näher gerückt ist.

~ Und natürlich werde ich das nicht sagen.
Es wäre viel zu viel Text. Noch dazu unangenehmer. Und das, wo doch alle langsam wieder aus den Ferien zurückkehren in ihre mehr oder minder gelingenden Leben.

Ich schreibe es hier. Weil es keinen Ort gibt, an dem ich es sagen kann – schon gar nicht in den Tür- und Angel-Gesprächen in einem Mehrfamilien-Haus (sic, die Dinger heißen wirklich so!).

Ferienende

269 Nein!

„Man kann nicht nicht begehren.“ Nein?
Manchmal wird selbst mein Zwerchfell ganz schlaff.
Nur reicht die Zeit nicht, vorerst.

Das Ferienende dachte ich angemessen mit einer Faulheitsorgie zu begehen.
Auch das aber war wieder nur ein Denk(- und Tuns)fehler. (Immerhin habe ich keine Rückenschmerzen davongetragen.)
Gezeigt hat mir das nur erneut: Solange ich ich bleibe, gibt es keinen Weg da heraus, und wenn ich mir fremd werde, gibt es gar keinen Weg mehr.
~ ~ ~

Neuerdings höre ich den Satz „Du kennst das ja alles“ – und ich schreie: NEIN! Doch ich weiß: auch das hört keiner.

Seitdem die Nachbarin im zarten Alter von knapp 70 gestorben ist, sagen mir alle, wenn sie über den Witwer sprechen, und sagt mir der Witwer selbst, wenn er über sich spricht: „Du kennst das ja alles.“

NEIN!

Ich weiß nicht, wie das ist, wenn der Lebensmensch zwanzig Jahre älter als meiner werden durfte.
Ich weiß nicht, wie das ist, wenn der Lebensmensch nur ein paar wenige Wochen – und noch dazu völlig indifferent (Gastritis, Colitis, sonstwas -itis?) – ein wenig vor sich hin leidet und dann stirbt.
Ich weiß nicht, wie das ist, wenn man sich um die Beerdigung des Lebensmenschen kümmern muss, denn ich war erst am Grab wieder zugegen.
Ich weiß nicht, wie das ist, wenn man vier Wochen nach dem Tod des Lebensmenschen über Urlaubspläne nachdenkt, denn seit unserem Tod gibt es keinen Urlaub mehr.

Dieser Nachbarstod radiert also noch einmal über uns – den Lebensmenschen und mich – rüber. Denn es wird behauptet, dass ich das alles kennte, was mir indes vollkommen fremd ist.

Wieder einmal machen Unbedarftheit, Gutmeinen und die Unfähigkeit des Ausblicks über sich selbst hinaus, dass gemacht werden soll: ‚Nie hat es den Lebensmenschen und mich gegeben.‘
(Das wäre in meinem Falle zweifelsohne auch besser.)
Nur HAT es uns gegeben.

Und ich habe Stacheln, Zacken, Messer und Glassplitter in meinem Fell.
Ich habe sie jetzt alle aufgestellt.

{ Zeitung lesend frage ich mich, welche irrsinnigen Kapriolen des Menschen Geist eigentlich noch schlagen soll? Fast 40 Grad in Sibirien. – Und wir fürchten „Corona“? }

Löwidows Kreise

268 Kreise ziehen
Heute habe ich begonnen, etwas enger einzukreisen.
Kreise darum herum ziehe ich schon sehr lange. (Das machen Katzen so. Als witwesker Eisbär allerdings verachte ich das.)

Heute habe ich mit dem flitzeroten Fahrrad die ersten zwei Routen zur Gemäldegalerie ausprobiert, die eine auf dem Hin-, eine andere auf dem Rückweg.
Zufrieden mit diesen Routen bin ich noch nicht. (Auf der einen gerät man ständig in Bushaltestellenanfahrtsmanöver von der dort verkehrenden einen Buslinie, die sich noch schlimmer gestalten als diejenigen der vielen Busse auf dem Ku’Damm – was etwas heißen will …) Denn ich möchte nach wie vor vermeiden, dass ein anderer als ich meinen Tod verursacht.
Notfalls aber – also wenn die Alternativen sich als noch unwirtlicher erweisen sollten – gingen auch diese zwei Wege zu den Bildern. (Und ich bin auf allen Routen dorthin etwa genauso lange unterwegs wie zu einem Ort, den ich öfter sogar zweimal in der Woche ansteuere, weil er ein Dornenhag ist schon seit vielen Jahren.)

Im nächsten Jahr ist in der Gemäldegalerie eine Spätgotik-Ausstellung geplant, wie ich heute sah.
Als ich das heute sah, sprang etwas in mir hoch und an. (In Leben #1 waren Spätgotik und/oder Frührennaissance – je nach Standort dies- oder jenseits der Berge – sehr lange meine Begleiter; und das waren wohl meine besten Jahre.)
In die Niederlande, nach Belgien, Wien, in den Prado oder nach Italien werde ich aus persönlichen Gründen nicht mehr kommen. Vielleicht aber im nächsten Jahr in die Gemäldegalerie auf irgendeiner dieser insgesamt eher unwirtlichen Fahrradrouten. – Sofern Herr Drosten und Frau Merkel, oder wie die dann auch immer heißen mögen, Gemäldegalerie-Besuche trotz all ihrer persönlichen Todespanik im Frühjahr 2021 gestatten werden. (Was, wie nun seit März diesen Jahres ja gelernt werden musste, keineswegs ausgemacht ist.)

Diese Überlegungen implizieren:
Erstens, das Jahresticket zu kaufen;
zweitens, das komplette Jahresticket zu kaufen (also das doppelt so teure, weil nur da auch die Sonderausstellungen mitinbegriffen sind);
und drittens sogar, warum.

Weil
es heute einfach eine Lust war, mein neues Kleid auf dem flitzeroten Fahrrad spazieren zu fahren (jaja, so ist das, wenn Löwidow unterwegs ist);
es für solche Fahrten (die im Notfalle übrigens auch in der U-Bahn zurückgelegt werden könnten) immer sehr, sehr gut ist, ein Ziel zu haben;
und weil in dieser musikleeren Zeit die Bilder, die ja nun endlich wieder zugänglich sind, während die Musik immer noch verboten ist, sich zunehmend lauter bemerkbar machen in meinem Kopf. Wiewohl sie naturgemäß nicht „klingen“ oder gar „rufen“ – das nicht, aber sie leuchten ausschnittsweise immer wieder einmal auf, neuerdings, da in meinem Kopf. Der heute auf einem Rumpf saß, welcher ein neues Kleid spazieren fuhr. Und das war genauso eine Lust, wie es das Aufleuchten jener Bildausschnitte ist und die Vorstellung, womöglich noch einmal das Ganze sehen zu können (das nicht „komplett“ heißen kann).

Ja, deshalb.
Ziehe ich Löwidow meine Kreise. Enger. Um jene Lust.

{ Und der Rest der Menagerie hat heute hier zu schweigen! Es reicht, dass der Vorderreifen vom flitzeroten Fahrrad immer noch singt und der Mitbewohner angefangen hat zu schnurren. }

Frei von und zu

267 Frei von und zu

Jemand ist gestorben, ist „noch nicht einmal“ 70 Jahre alt geworden (so sagen dann alle dazu: „noch nicht einmal“. Ich denke: Das sind mehr als 20 Jahre, die der Lebensmensch und ich nie hatten – und damals, vor 12 Jahren, waren 20 Jahre so ziemlich unser halbes Leben).

Als ich davon hörte, hat es nicht lange gedauert, bis ich dachte, dass das hier womöglich das Haus der ‚frühen‘ Tode sein oder werden könnte, und ich musste trocken auflachen, was natürlich, als ich das auch in einem Gespräch tat, nur Entsetzen hervorrief. Tja.

Und dann hat doch noch einmal die Mühle meiner Erzeugung gemahlen.
Hat mich wieder zermahlen. Und raus kamen die üblichen Höflichkeitsplätzchen, diesmal Trauerarbeitsküchlein.
Die ich klick-klack-klick-klack vor der Tür des Trauerhaushalts, genauer: in dessen Türrahmen stehend und sie persönlich übergebend, erzeugungsgemäß abgeliefert hab. Klickklackklickklack.
Hinter jener Tür trauert einer, den ich überhaupt nicht kenne. Und der damals, als mein Lebensmensch gestorben war, den er genauso wenig kannte, mir nie ein Wort dazu gesagt, geschweige denn Trauerhöflichkeitsempathiecookies übergeben hat.

Ich habe nun per Handschrift und per Essensüberreichung kondoliert.
Und mir ist in der Begegnung mit diesem Trauernden so deutlich geworden (wieder einmal), dass ich völlig anders bin.
~ ~ ~

Ich hatte zunächst zugesagt, zu der Beerdigung der mir bis auf ein Dreiminutengespräch vor etwa zwei Jahren (das im Hinterhof am Papiercontainer stattfand, aus dem ich ihren drin verlorenen Schlüsselbund herausfischte) völlig unbekannten Verstorbenen zu kommen.
Auch diese Zusage war der Benimm-Mühle geschuldet, die Höflichkeitsmehl mahlt, aus dem dann alles Mögliche, darunter auch Kondolenzplätzchen, gebacken wird, und die – wie auch die Backstube – vollautomatisiert läuft.
Leider manchmal immer noch.

Es hat auch jetzt wieder ein bisschen gedauert. Aber es ist doch noch entstanden.
Ich weiß jetzt, dass ich zu dieser Beerdigung nicht gehe.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~

Es hat wieder ein bisschen gedauert. Immer noch dauert es ein wenig.
Aber es gelingt dann und wann:

Frei von und zu.

Input

266 Input

heißt das Zauberwort. Es gibt kein deutsches Äquivalent dafür („Speisung“ fand ich, doch so zutreffend das auch ist – es sagt etwas Anderes mit, das [mir] nicht passt).

Input, dessen sind auch witweske Eisbären noch bedürftig. (Was heißt hier „auch“?)
Wenn ich Input bekomme, kreise ich nicht nur um mich.
Wenn ich Input bekomme, bleibt ein Luft-Kanal offen, so dass kein Ersticken ist.
Wenn ich Input bekomme, gehe ich nach draußen, und gebe dort selbst – Input.

Das DaZeln – alles Input. Hin und her. {Und übrigens, denn ich bin aufgund meiner Erfahrung imstande, das zu vergleichen: DaZeln ist viel mehr Input und vor allem viel mehr Hin-und-Her-Input, als alle Uni-Lehre es je sein kann, wird nur leider etwa drei bis fünf Mal so schlecht bezahlt.}

Die Opern, die Konzerte – alles Input. (Und wie herrlich, dass deren Besuch heißt, zwei-, dreimal nach draußen zu gehen, nämlich wenn man eintritt, wenn man in die Pause geht, und wenn man das Opern-, das Konzerthaus wieder verlässt.)

Die Bücher – Input. Der allein aber nicht hinreichend ist. Vielleicht, weil es da kein Hin und Her, keinen Gang nach draußen gibt. Vielleicht, weil ich noch nicht
– was auch immer, jedenfalls fehlt mir da noch etwas zu.

Und jetzt fehlt mir langsam massiv leibhaftig erlebbare Musik, fehlen mir Oper und Konzert (DaZeln darf ja für mich noch sein, noch).

Also wäre vielleicht eine Übertragung angeraten.

Zurück auf was Altes. Auf die bildenden Kunst des Mittelalters und der (Früh-)Renaissance. In die Gemäldegalerie.

(Dort war ich, als ich es hätte sein sollen, fast nie, damals um die Dreißig, als ich meine Diss. schrieb, und oft dreihundert Meter entfernt an der Ausleihe stand.)
Mit dem Lebensmenschen habe ich dann Giotto in Assisi und Piero in Arezzo und noch paar andere andernorts gesehen. – Input.
Der bis heute nachwirkt.
Unter anderem in der Seelenforderung namens Input, hin und her.
~ ~ ~ ~ ~ ~ ~

Vermutlich also werde ich nun doch noch ein Jahresticket für die Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz erwerben. – Als ich kürzlich erfuhr, wer in deren ‚Bewertungskommission‘ den Vorsitz innehatte, musste ich so herzlich lachen, dass tatsächlich 50 Euro irgendwo aus mir herauskollerten.

(Eigentlich weiß ich seit Jahren, dass das was Gutes wär’, wenn der witweske Eisbär dort, inmitten all der auf die Leinwände gemalten Menschen und all der in die Leinwände gesagten, geflüsterten, geschieenen und stumm gebannten Gedanken, wäre.)
Ich denk’, ich leiste mir das jetzt. ’S flitzerote Fahrrad ist auch fit, das Wetter kein Kriterium.

Und ja: Ich weiß, dass 50 Euro ein Leben retten können.
Ich werde mir das vermutlich trotzdem leisten.

In eigener Sache

54 Ziffern
Ich habe uns – dem Lebensmenschen und mir – vier Monate geschenkt. Ich habe mich verrechnet.

Alle Jahre im Sommer beginne ich das Witwesk neu (diesmal bin ich bislang nur einfach noch nicht die alten Texte durchgegangen. Und nur die Bilder dürfen dann meist bleiben, denn sie sind oft auch mir nicht ganz verständlich, und sie laufen hier ohnehin in aller Öffentlichkeit off the record). In diesem Sommer habe ich das Witwesk mit dem Eintrag vom 10. Juni (der als 11. hier erschien) begonnen, habe begonnen mit der „Peritonealkarzinose“.

Und da habe ich uns vier Monate geschenkt, vier Monate, die wir nie hatten.
Diagnose 1 war am 05.08.2009.
Diagnose 2 kam am 10.06.2010.
Also nach zehn Monaten statt nach „einem Jahr und zwei Monaten“, wie ich in jenem Beitrag schrieb.

Das sagt, was war.
Zu schnell, um mitzukommen, waren wir nach fast genau 15 Monaten tot.