Lächeln

242 Lächeln
Und wieder: Ausschließlich meine Fehlleistungen, meine Fehler, meine Defizite, meine Verantwortung, mein Versagen.
Und wieder: Dass es mir Boden, Atem und Verstand nimmt, ist eine Überreaktion.
Und wieder also: Bin ich falsch, durch und durch, und falsch allein, ².
Währenddessen lächelt man.
~

Ich habe auch gelächelt. Nachdem ich die Tränen weggebissen hatte.
Ich habe auch gelächelt. Nachdem ich mich an jenes Wort vor wenigen Wochen erinnert hatte. {Es hat mich schon damals irritiert, weil es überhaupt nicht gepasst hat zu der Person, die es sprach.}
Ich habe auch gelächelt, als ich ging.
Ich habe danach auch im Kurs wieder oft gelächelt.

Ich lächle noch immer. Ich kann das: trotz allem und gegen alles, was in mir ist, lächeln.
Das macht frei. Giannozzo weiß, wie das ist.
Es entspannt nicht, es tut nicht gut, aber es macht frei.
Ich kann gut lächeln. Mein Lächeln reicht immer bis in meine Augen hinein, alles nur eine Frage von Sinnlosig- und Ehrlichkeit; ich kann gut lächeln, zumindest das.

Witwesker Wunsch

Präambelbild 2019 (Nö klein)
Vor kurzem war mein erstes Konzert in diesem Jahr. {Fast wäre ich nicht hingekommen, weil ich weiterhin keinen Umgang mit jener Erfahrung gefunden habe. Doch ich bin aufgestanden, wie letztens auch wieder die Traurigkeit, und hingefahren.}

Ich saß wegen des Witwenkassenbudgets wie immer auf einem der billigsten Plätze – und wie so oft sind die genial: Dieses Mal, weil ich direkt über dem Orchester saß.
Die Mezzosopranistin sang zwar nach vorn und wandte folglich den anderen und mir da oben unterm Dach den Rücken und etwa 15 Meter Höhenluft zu. Doch sang sie nur zweimal (beide Male allerdings atemberaubend, und das sogar nach oben-rückwärts; Alice Lackner ihr Name). Des Orchesters Spiel indes stieg zwei Stunden lang von nichts gebremst, durch nichts gefiltert zu mir hoch (Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin sein Name, Dirigat Vladimir Jurowski).
Und zwei- oder dreimal hat es sich in mein Zwerchfell gespielt.

Anders, als ich das von Rockkonzerten kenne (die ich unter anderem deswegen in Leben #1 nie gern und extrem selten besucht habe und im Witwesk gar nicht mehr besuche), hielt dieses Spiel mit meinem Zwerchfell nur eine kurze Zeit an. Und anders als ich’s bislang kannte: Ich möchte diese paar Takte nicht missen!

In der Pause habe ich das Witwenkassenbudget gesprengt und mir ein Glas Wein gekauft (+ Trinkgeld, das dem Cateringpersonal offenbar außer witwesken Eisbären nur wenige Andere geben).
Solche Pausen-Gänge sind weiterhin schwer für mich: Die wenigen Frauen, die allein Konzerte besuchen, klemmen sich in der Pause meistens erst aufs Clo, in der Schlange dorthin heimlich taxierend, dann knapp vor die Saaltür und das Programmheft unters Auge; die nicht wenigen Männer, die allein Konzerte besuchen, klemmen sich in der Pause meistens ihr Handy oder die Lustwandelnsluft vors Auge und mitunter, nicht selten, einen taxierenden Blick völlig offen hinein; all die Paare, die üblicherweise Konzerte besuchen, nehmen so, als sei das ganz natürlich, sehr viel Raum ein, da klemmt fast nie was, aber taxieren – das tun die beinah alle, und meistens klemmt sich deren Blick dann doch fest: bei einem, überwiegend einer, von denen, die allein sind.
Dieses Mal hatte ich Lust darauf, mich diesem Spießrutenlauf der Konzertpausen-Verklemmtheiten zu stellen (Schwere Arbeit kann bekanntlich manchmal Lustgefühle auslösen).
Ich sehe immer allen, die mich taxieren, in die Augen. – Das scheint sehr irritierend zu sein.
Mich stimmen diese irritierten Reaktionen, wenn ich in solcher Stimmung bin, immer kaltfroh: „Hab ich dich erwischt! In deinem Dünkel, in deinem Glauben an deine Unsterblichkeit, in deiner selbstüberzeugten Saturiertheit.“
Noch ein jedes hat bisher irgendwann den Blick gesenkt.

Als ich wieder zu Hause war, habe ich dem Ticket-Strauß, der am Kühlschrank hängt, noch eine Konzertkarte hinzugesteckt (man kann in der Pause ja auch einfach auf seinem Platz bleiben): Gleicher Platz (nur auf der anderen Seite des Konzerthauses), gleiches Orchester, gleicher Dirigent wie vor kurzem, kein Gesang, dafür ein Mozart-Klavier wie ja erst kürzlich im Witwesk, und Bruckner, den ichKretin erstmals entdecken darf (ja: die Existenz als Kretin hat sehr schöne Seiten!).

Dass Mahler mich mittlerweile zu begleiten begonnen hat, habe ich heute wieder gemerkt.
– Womit ich langsam zum witwesken Wunsch komme.

Der Lebensmensch ist tot. Und wird tot bleiben. Und das Allein² wird bleiben.
Ich bin – und werde es bis zu meinem Tod bleiben – für fast alle ein Vielflach außerhalb jeglicher Bildplanimetrie: unverständlich bis unkenntlich; das habe ich gerade wieder mehrfach erlebt.
Was also bleibt mir?
_______

Witwesker Wunsch:
Ich möchte unabhängig sein, frei und meine.

– Ich möchte nicht mehr wünschen, dass Menschen wenigstens ansatzweise erleiden, was wir erlitten haben – gleichgültig, wie dumpf, stumpf, brutal, ichig und dumm diese Menschen sind.
– Ich möchte nicht mehr wünschen, dass Menschen mich verstehen. Es soll mir reichen, dass ich sie oft verstehe.
– Ich möchte nicht mehr wünschen, dass Menschen auf meinem Weg zu meinem Tod wichtig seien. Ich gehe den schon lang allein.
Mit dem Wunsch nach dem nicht-mehr-Wünschen wünsche ich mir also, dass mir alles wieder so vollkommen gleichgültig wird wie direkt nach unserm Tod, und dass ich zum Beispiel das Geld ausgebe für Konzerte, für Freundesessen, für die Reise ans Meer, statt auf diese entsetzlich kleine Witwenkasse zu starren.

Unkenntlich bin ich für die Menschen, fast alle; bestenfalls unverständlich.
Das sollte ich endlich mal ernst nehmen.
Und unabhängig sein, frei und meine.

Gescheitert – Klappe, die ∞

241 Gescheitert
Etwas zu riskieren, birgt immer die Möglichkeit des Scheiterns.
Mein Risiko besteht darin, meinen Beziehungsraum zu öffnen, Kontakt aufzunehmen, Nähe zu suchen (womöglich gar so etwas wie Minutengeborgenheit), und auf ein – gegenseitiges – Verstehen zu hoffen, oder wie es bei Thomas Mann heißt, auf: „a recht’s a menschlich’s Verständnis“ (und da ich kein Adrian Leverkühn bin, sondern ein witwesker Eisbär, das halt nur für ein paar Minuten, maximal und wenn überhaupt).

Ich habe etwas riskiert und bin damit gescheitert.
Noch weiß ich keinen Umgang damit.

Ich bin vollkommen unverstanden worden.
Nicht miss-, sondern unverstanden.
Vor mir stand einer (wir begegnen uns seit Jahren, sprechen zu- und manchmal auch miteinander) und dachte, ich bin ein abstraktes Bild, ein Vielflach auf Farbgewölk, ein psychotisches Rendering.

Noch weiß ich keinen Umgang damit.
~ . ~ . ~

Neben diese betäubende Traurigkeit setzt sich die Sehnsucht.
Ich sehne mich nach dem Lebensmenschen. Weiß, dass er tot ist. Und so steht die Traurigkeit wieder auf.

Mal wieder Zensur

240 weiterweiter

Ich hatte einen Blogbeitrag über den aktuellen Integrationskurs und die unsägliche Bamf-Honorarpolitik geschrieben (auch für dieses Modul werde ich noch nicht einmal das „Mindesthonorar“ von 35 Euro pro Unterrichtsstunde erhalten, sondern nur 28 Euro, und netto werden davon in der Witwenkasse etwa 11-12 Euro pro Arbeitsstunde übrig bleiben – für eine Arbeit, die nur mit Universitätsstudium, aber ohne Krankheit und Urlaub getan werden darf; für eine Arbeit, die fast nur Frauen, viele davon selbst mit Migrationshintergrund, tun; für eine Arbeit, die deshalb so menschenunwürdig bezahlt wird, weil sie fast nur von Frauen getan wird – und wohlgemerkt vom bundesrepublikanischen Innenministerium so bezahlt wird, denn das Bamf ist eine von dessen untergeordneten Behörden).

Ich habe das alles wieder gelöscht.
Denn es ist vollkommen sinnlos, wenn ich hier oder an irgendeinem anderen Ort darüber berichte.
Ein Professor hat mich da auch schon mehrfach zurechtgewiesen: Er hat meine Berichte über die Honorarpolitik des Bamf „Jammern“ und „Klagerei“ genannt. Dann hat er mir Geld angeboten – „fahr doch mal in Urlaub!“. (Es hat Monate gedauert, bis ich begriffen habe, dass man solche Herrschaften mit dergleichen Berichten aus der Lebenswirklichkeit fünfzig Stockwerke unterhalb ihrer besser nicht konfrontiert: Man beschädigt letztlich nur sich selbst damit.)

Es ist vollkommen sinnlos, wenn ich hier darüber berichte. – Mithin noch sinnloser, als über das Witwesk hier zu berichten. Das nämlich ergibt noch einen Sinn, für eine, mich. (Und ich bin hier ja nicht nur die einzige Produzentin, sondern auch die einzige Rezipientin.)
Das Blogbeitragsbild ist gelebtes Spiel.
Der Text ist vollzogene Struktur.
Mitbewohners Erlebnisse sind der allmonatliche Leuchtturmsrapport.
Letztes dichter ist ein Faden (der oft verlorengeht).
~ ~ ~

Fürs Protokoll: Knie wird langsam besser (Sonntag rennt’s hoffentlich wieder über den Iron-Widow-Parcours, es soll Sonne geben). – Haar ist geschnitten (und doch diesmal nicht ganz so kurz: beim türkischen Herrenfriseur war der stille Freund meines Kopfes frei). – DaZel-Lehrerin wird langsam auf Kurs gebracht (erinnere dich: Es geht bei Leben nie ums Geld, und noch ist genug davon da, um dir diesen Satz leisten zu können). – Übermorgen soll endlich die Strickjacke kommen, weich und so blau wie das Nordpolarmeer im ersten Sonnenschein.

Sabotage

240 Kurs kurz verloren

Das war klar.
Vorhin beim ersten Rennen über den Iron-Widow-Parcours in diesem Jahr habe ich mich voll aufs Knie gelegt.
Ich bin an einem Stein(chen – was nun, weiß ich im Moment noch nicht) im Boden hängengeblieben, habe das sofort gemerkt und konnte wie schon letztens immerhin im Fallen dafür sorgen, dass ich mich nicht auf die Fresse lege. Und im Vergleich zum letzten Mal vor etwa zwei Jahren ist nun auch nur ein Knie blutig geschlagen.

Ja. Das war klar. Ich war guter Dinge: ‚Neujahrsrennen‘ – Ein Wort haben – selbst Worte haben – jedenfalls die Vorstellung davon – etwas zum Warmhalten; ja, ich war guter Dinge.
~

Aber ich habe mich wieder nicht auf die Fresse gelegt! Und ich habe mich diesmal sogar nur auf eins von immerhin zwei Knien gelegt!

Von Sonne, Wort und Sterben

239 Kurshalten

Vor ein paar Wochen hielt ich hier ein Wort fest, für mich, von dem ich zunächst annahm, dass es länger hielte, und von dem dann zu befürchten stand, dass es doch früher als erhofft sich davon machen würde.
Heute habe ich gemerkt, dass es noch da ist (ohne, dass es wiederholt werden musste).

Drei Optionen – auch das habe ich hier bereits notiert – bietet das frisch angebrochene Jahr, wie ein jedes: Ende, Weitersegeln, Anfang.

Am Enden habe ich heute einen sujetgemäß garstig und sarkastisch teilhaben lassen, obwohl ich keinem mehr etwas vom Schwarzen Sturm aufs Herz legen will (und das mittlerweile fast immer auch schaffe).
Es gibt da zwar ein Angebot, aber ich möchte davon keinen Gebrauch machen (und denke ohnehin, dass ich das irgendwie falsch verstanden habe) – und doch habe ich es nun also heute prompt getan.
Und ja: es fühlt sich doppelt falschgemacht an.

Daraus könnte ein Weitersegeln werden. Hart am Schwarzen Sturm. Auf jenem Wort von vor drei Wochen.

{ Und dass ich selbst so lange schon anfangen möchte – das darf nach wie vor kaum geflüstert werden.
Vor lauter Wut über diese Selbstverlogenheit – und überhaupt: Wut – habe ich vorhin einen Kauf getätigt, mithin eine consumptio begangen und ein kleines Sterben, eine Strickjacke erworben, weich und blau wie das Nordpolarmeer im ersten Sonnenschein. Vielleicht wird auch davon zu erzählen sein, dort; fair wäre es. }

Schaltjahr

238 Tagstreichung (Schaltjahr)

Dieses Jahr ist ein Schaltjahr. Ich habe diesen nun wirklich überflüssigen Tag gestern gestrichen. Er ist nicht mehr existent. Seitdem ich ein witwesker Eisbär bin, weiß ich, wie das geht – meine Kolleginnen in der Arktis streichen ganze Monate, allerdings nur, wenn sie trächtig sind. Andernfalls kennen sie so wenig wie die männlichen Kollegen eine Winterruhe.
Doch ich bin ja ein witwesker Eisbär, manchmal auch ein Löwidow (freilich nur im Sommer), also ohnehin ein Zwitterwesen; vermutlich ist da auch etwas von Grizzy mit im Spiel, und die halten Winterruhe, streichen Wochen und Monate.
Es war zwar nur ein Tag, der Schalttag, den ich gestrichen habe, doch ein wenig tapsig fühle ich mich jetzt trotzdem. Und ein wenig froh: Dass das immer noch geht.

Ein Schalter hat sich wieder nicht gefunden. Ob ich das bedauern oder begrüßen soll, weiß ich nach wie vor nicht.

Unser Abend zum 10. Mal ohne uns

{ geschrieben am 30.12., und es gab weder eine neue Matratze noch eine Flasche Champagner – manchmal ist der Eisbär zart und Schutz.
Und diesmal ohne Bild, weil alles, vor allem der Himmel, so schön bunt hier ist, jetzt da ich das hierher stelle. }

„Unser Abend“ ist vorbei.
Ich schrieb hier letztens, dass ich mich nicht „systematisch“ erinnere.
In diesem Jahr war „unser Abend“ an diesem Abend fast nicht vorhanden.
Er war hier im Witwesk vorhanden, mehrfach, früher. Und vielleicht wird er das wieder sein.
Diesmal war er es im Grunde nicht.

Diesmal war alles flach, fahl, fallend. Gen Grund.
Wie so oft. Und weil alles flach ist, ist der bald erreicht. Das Fallen wiederholt sich dennoch, wieder, wieder. Wenn man fällt, weiß man nicht, wie tief oder flach. Man fällt und obwohl man die Augen weit geöffnet hat, ist es dunkel – so ist Fallen.

~ ~ ~

Ich werde allein bleiben,
werde nicht vergessen, wessen Gesellschaft ich einst hatte,
werde traurig bleiben und einer der glücklichsten Menschen gewesen sein.

_______
Draußen knallt’s. Ich bin schon wieder aus der Zeit geraten, heute ist bereits zwei Tage weiter als ich.
Das letzte gemeinsame Silvester vor zehn Jahren. Damals noch nur mit dem Darmkrebs und der Chemo. Wir ahnten nicht, dass unser Jahrzehnt keine Zukunft hatte. Aber wir hatten eine harte klamme Beklemmung im Leib und in der Seele.

Das Jahrzehnt, das damals begann und das nun beendet ist (so rasch wie ein Zähneknirschen), habe ich fast vollständig allein verbracht.
Ich habe das nicht gewollt, habe damals, was mir möglich war, dafür getan, dass es endet. Eine Anästhesistin, die ich um Rat gefragt hatte, erzählte mir, wie dankbar ihr die von ihr geretteten Suizidanten bis heute seien. Damals musste ich mich fast übergeben. Und schon damals war mir klar, dass sie von denen, denen es nach der „Rettung“ anders ergeht, nichts hört (und auch nichts hören will).

______
Das angebrochene Jahrzehnt enthält für mich, wie schon das letzte, drei Optionen:
Ende,
Weitersegeln,
Anfang.

Eine jede kann ich mir gut vorstellen. Und eine jede erscheint mir gut. – Das ist doch mal was Feines!